Der Pfarrer hat sie bei der Stasi angezeigt

Reneate Bekheet erhielt vom Bundespräsidenten Joachim Gauck eine Einladung zum Sommerfest 2013.

Gesendet am 4.1.2012 im Stadt Radio Göttingen

Kennen Sie das auch? Sie kennen einen Menschen viele Jahre lang vom Sehen. Möglicherweise sprechen sie sogar an der Bushaltestelle miteinander. Jahrzehnte später erfahren Sie, dass dieser Mensch eine interessante Lebensgeschichte hat. Sie möchten mehr darüber wissen und fragen nach.

So ging es mir mit Renate Bekheet aus Witzenhausen.
Sie wuchs unter der Nazi- und der DDR-Diktatur auf. Renate Bekheet war in der DDR im Frauenzuchthaus Hoheneck wegen „verbrecherischer Spionagetätigkeit, Boykotthetze und Mordhetze gegendemokratische Politiker“ inhaftiert.

Um zu erfahren, warum sie tatsächlich inhaftiert war, habe ich sie in Ihrer Wohnung in Witzenhausen besucht.

(Motorengeräusch)

Die wuscheligen blonden Haare sind hoch gesteckt, die Wangen sind rot geschminkt, die Augenbrauen nachgezogen.
Unter dem dunkelblauen Pullover schaut ein weißer Spitzenkragen hervor. Sie trägt eine lange dunkle Hose. Die wachen Augen sind freundlich auf mich gerichtet, als sie mich an der Wohnungstür begrüßt.
Man sieht ihr nicht an, dass sie 80 Jahre alt ist. Mir scheint sie in den letzten 30 Jahren kaum gealtert zu sein. Lediglich ein paar Kilo mehr zeigt die Waage an. Aber die Jahre sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie musste im DDR-Gefängnis Hoheneck schwere Kanalarbeiten durchführen und wurde als 55-Jährige an der Hüfte operiert. Heute geht sie an zwei Stöcken.

(Musikakzent)

Um zu verstehen, warum sie wegen angeblicher Spionagetätigkeit verhaftet wurde, muss man auch die Vorgeschichte und ihre Kindheit kennen.

Renate Bekheet hatte keine leichte Kindheit. Als sie noch klein ist, wenden sich ihre Eltern den Lehren der Bibelforscher zu. Die Zeugen Jehovas wurden damals auch Bibelforscher genannt.

„ … meine Eltern hatten Nachbarn, die waren Zeugen Jehovas und die haben meinem Vater von der Wahrheit erzählt. Und er war begeistert und er hat dann sämtliche Bücher von Bruder (John F.) Rutherford bestellt, hat die alle gelesen. Aber meine Mutter wollte nichts wissen. Sie hatte ganz schlechte Erfahrungen in ihrer Kindheit mit der Kirche gemacht.“

Nachdem ihre Mutter fast bei ihrer Geburt gestorben ist, beschließt sie Gott und die Bibel kennenzulernen:

„Sie hat dann auch die Bibel kennengelernt und sie war dann nachher im Predigtdienst noch eifriger wie mein Vater.“

Ihre Eltern erzählen ihr auch etwas über ihre neue Religion.

Leischnig_otto-martel-renate_Picknick„Und natürlich haben die Eltern mir erzählt.… ich war ein Kind furchtbar mitteilsam.
Was man mir erzählt hat, bin ich zu den Nachbarn gegangen und hab´das gleich weitererzählt und da hab ich immer gesagt: ‚Bald wird ein großer König regieren, aber nicht den Nazis sagen.’ Und für mich waren nur die Nazis, die da immer in Uniform durchs Dorf liefen. Aber in Brünlos, wie der kleine Ort hieß, gab es sehr viele Nazis und das waren auch Nazis und die haben dann meinen Eltern Vorhaltungen gemacht, was die mir für`n Quatsch erzählen würden. Und da merkten meine Eltern, dass das sehr gefährlich war, wenn ich zuviel wusste.“

Renate Bekheets Eltern erzählen danach ihrer Tochter nur noch indirekt etwas über Ihren Glauben. Da die Zeugen Jehovas verboten werden, treffen sich nur noch heimlich mit anderen Glaubensgeschwistern.
1934 wird ihr Vater Otto Leischnig das erste Mal verhaftet und kommt nach einigen Monaten wieder frei.
Buchenwald1936 wird ihr Vater wegen Kriegsdienstverweigerung erneut für 15 Monate verhaftet. Nachdem er die Strafe verbüßt hat, wird er in das KZ-Buchenwald eingeliefert.
Renate Bekheet sieht ihren Vater aber erst 9 Jahre später wieder.

(Musik)

Otto Leischnig, der Vater von Renate Bekheet, war Schneider von Beruf.
Im KZ-Buchenwald wird er in der SS-Schneiderei eingesetzt. Als ungetaufter Zeuge Jehovas näht er keine Wehrmachtskleidung, aber er näht verschiedentlich Zivilkleidung für SS-Angehörige.
Eine Zeitlang geht es ihm besser als anderen Häftlingen im KZ-Buchenwald.
Dies ändert sich im Februar 1939, als der zivile Schneidermeister bei der SS in Ungnade fällt. Es fliegt auf, dass der Schneidermeister sich ein Buch über Schneiderei aus dem Privatbesitz von Otto Leischnig zusenden ließ.
Wegen dieses angeblichen Vergehens erhält das gesamte Häftlingskommando die Prügelstrafe von je 25 Stockhieben. Auch am nächsten Tag erhalten alle erneut 25 Stockhiebe.
Anschließend kommen sie in den „Schwarzen Bunker“.
Der „Schwarze Bunker“ ist völlig abgedunkelt, abgedichtet und nicht beheizt. Es gibt nur wenig zu essen.
Die Häftlinge schlafen auf Dielen. Die Mützen dienen als Kopfkissen und die Jacken als Zudecken. Der Gestank der Fäkalien ist unerträglich. Waschen können sie sich nur alle 2-3 Tage. Einige Inhaftierte sterben.
Nach über 2 Monaten wird Otto Leischnig aus dem „Schwarzen Bunker“ entlassen. Er ist am Ende seiner Kräfte.
Allerdings wird er erst 6 Jahre später aus dem KZ von den Amerikanern befreit.
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„Und wie mein Vater dann 1945 entlassen wurde, da haben die Amerikaner … er wurde ja von den Amerikanern befreit.
Und dann haben die Amerikaner gesagt: „Ihr habt hier so lange ausgehalten. Auf den Straßen ist Chaos. Flüchtende Soldaten, Flüchtlinge und Kriminelle. Es ist katastrophal auf den Straßen. Wir haben alle hier Papiere. Wir stellen Euch Papiere aus, warum ihr hier wart. Es gab ja auch Kriminelle. Und wenn es sich beruhigt hat, … hat er gesagt: ‚Euch fahren wir bis an die russische Zone und übergeben Euch den Russen. Das die Euch dann bis nach Hause bringen, aber wir fahren Euch …’, und die anderen die vom Westen waren, haben die dann alle transportiert. Das haben die Amerikaner gemacht, die haben es organisiert.“

(Musik)

Während Renate Bekheets Vater in Haft ist, versucht ihre Mutter Marthel Leischnig für den Lebensunterhalt aufzukommen:

„ … meine Mutter hatte es dann sehr schwer. Sie hat ja kein Pfennig Geld vom Staat bekommen, die hat dann versucht Heimarbeit und alles Mögliche zu machen, dass wir über die Runden… Miete zahlen und Essen zahlen konnten. Aber im Dorf gab es auch nette Leute und wie ich in die Schule kam, ich habe Geschenke gekriegt (lacht) und hatte sogar 2 Zuckertüten.“

Renate Bekhet kommt im Frühjahr 1937 in die Schule. Die Sommerferien verbringt sie bei den Großeltern auf dem Bauernhof.

„Und wie die großen Ferien vorbei waren, da sagt meine Oma: „Willst Du bei uns bleiben?“ Und da sage ich: „Und meine Mutti? Erlaubt die denn das?“ „Ja, Deine Mutter ist im Krankenhaus.“ „Ja.“ „Ja, dann holen wir Deine Schulsachen, dann holen wir alles.“ Und ich war begeistert, dass ich dableiben konnte.“

Renate Bekheet erfährt erst später, dass ihre Mutter Marthel Leischnig verhaftet wurde.

„ … in Chemnitz, hat sie diese Traktate gegen Hitler verbreitet. Dass er es lassen soll die Zeugen zu verfolgen, sonst würde eben Gottes Strafe über ihn kommen. Und das haben die nachts um 4 Uhr überall unter die Hausmatten gelegt und die haben nicht geklingelt, nur überall, dass alle Leute das kriegten und die waren aber verraten worden von jemandem.“

Sie ist zuerst 2 ½ Jahr in Leipzig und Cottbus inhaftiert. Anschließend wird sie ohne Prozess ins Frauen-KZ Ravensbrück gebracht.

KZ Ravensbrück
In Ravenbrück muss sie schwere Arbeiten verrichten.

„Die mussten im KZ immer Sandberge verschaufeln und Steine schleppen und dann musste sie auch in der Landwirtschaft arbeiten. Aber eben ganz wenig Essen.“

Obwohl Marthel Leischnig keine getaufte Zeugin Jehovas ist, verweigert sie mit vielen anderen Zeuginnen Jehovas Munitionstaschen oder andere Dinge für den Gebrauch der Soldaten herzustellen. Dafür erhalten sie die Prügelstrafe.

„ … im KZ war sie auch bei denen dabei, die 25 Schläge auf den nackten Hintern gekriegt haben, wo die SS dabei gestanden hat, mit Marschmusik, die wurde so über den Bock geschnallt. Du dann haben die Marschmusik gemacht. 2 kriminelle Häftlinge wurden gut gefüttert, dass sie Kraft hatten und da hat jede Schwester 25 Schläge mit Knüppel auf  Ravensbrück 063den Hintern gekriegt. Die Hautfetzen sind nur so weggeflogen, Fleisch hatten die schon gar nicht mehr. Und der Himmler hat grinsend dabei gestanden.“
„Und nachts mussten sie im Bunker im Keller auf Steine liegen, da gab es 3 Tage gar kein Essen und am 3. Tag mal ein Kanten Brot, dass sie wenigsten überlebt haben … “

Marthel Leischnig ist gesundheitlich sehr angegriffen. Als ihre Freundin ermordet wird, verliert sie den inneren Halt. 1942 entschließt sie sich eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben und wird aus dem KZ entlassen. Welche der verschiedenen Texte der Verpflichtungserklärung sie unterschrieben hat, ist unklar. Anfangs unterschreibt man nur, dass man sich nicht mehr staatsfeindlich betätigen will. Später erklärt man durch die Unterschrift, dass man erkannt hat, dass die Lehre der Bibelforscher falsch ist und das man sich davon lossagt.
Obwohl sie die Verpflichtungserklärung unterschrieben hat, gibt sie ihren Glauben nicht auf. Sie lässt sich 1947 sogar als Zeugin Jehovas taufen und ist auch in der DDR noch aktiv verdeckt tätig.

(Musik)

Während die Eltern von Renate Bekheet im Gefängnis sind, verlebt sie ein glückliches Jahr bei ihren Großeltern und hat in der Schule nichts auszuhalten.
Ihre Tante ist der Meinung, sie müsse strenger erzogen werden und nimmt sie zu sich nach Chemnitz. Hier wird sie zum Schlüsselkind.

„… meine Tante war den ganzen Tag im Büro und mein Onkel war vom Militärdienst befreit, der war Werkmeister in einer großen Firma und unabkömmlich. Aber der war nur in der Firma, wie die anderen beim Militär. Der kam nur mal zum Schlafen nach Hause.“

Da ihre Tante ganztägig arbeitet und sehr vergnügungssüchtig ist, benutzt sie Renate Bekheet nur als Putzfrau und Hausangestellte.

„Und da hatte ich das Gefühl, die hat ein Dienstmädchen gebraucht und ich bin zu ihr mit 7 Jahren.“

Nach der Schule ist Renate Bekheet den ganzen Tag allein und liest sehr viel. Sie kann deshalb sehr gute Aufsätze schreiben, aber sie erhält nur schlechte Noten und wird ständig geschlagen. Sie schreibt für ihre Freundin die Aufsätze. Ihre Freundin bekommt die Einsen.
Ihre Lehrerin Frau Oswald ist nationalsozialistisch eingestellt. Sie lässt eines Tages alle Mappen in der Pause auf dem Schreibtisch liegen.

„Und wie ich Tafeldienst hatte, hat sie die ganzen Schülermappen liegen lassen auf dem Pult und ich sofort mal bei mir reingeguckt. Und da war so eine Pappmappe und da war so quer auf die erste Seite so rübergeklebt ‚Eltern im KZ, Bibelforscher’.“

Während des Krieges wird die Hälfte ihrer Schule als Lazarett genutzt und so kommt sie in eine andere Schule. Hier werden ihre Leistungen wieder gerecht bewertet.

(Musikakzent)

Einmal in der Woche muss Renate Bekheet zur NS-Umerziehung ins Jugendamt gehen.

„Und ich bin da gerne hingegangen. Die war sehr nett. Die hat vieles spielerisch mit mir gemacht, aber ihre Nazi-Sachen, die haben mich nicht interessiert, denn ich hatte einen festen Glauben an die Bibel.“

Sie kennt sich in der Bibel aus:

„Mein Großvater war ja sehr kirchlich, aber jeden Abend, vor allem im Winter, wenn es früh dunkel wurde, wurde Dämmerstunde gehalten und dann mussten auch die andern Enkel von oben mit runter kommen. Das waren 3 und ich war dann die 4. Und dann hat er jeden Abend so 3-4 Kapitel aus der Bibel vorgelesen, aber ohne jede Erklärung.“

Ihr Großvater schenkt ihr Bücher, in dem die Mädchen immer brav zuhause Strümpfe stopfen und dafür in den Himmel kommen.

„Und da waren dann Bilder, wo die Teufelchen das Feuer schmorten und die Leute mit schreckverzehrten Gesichtern in den Flammen standen.“:

Sie fragt einen Pfarrer:

Zeigen Sie mir doch mal, wo das in der Bibel steht, dass der Teufel das Feuer so schürt und die Leute so schmort. Ich kann es in der Bibel nicht finden. Ich suche es schon immer.“ Und da hat er gesagt: „Du hast nicht zu fragen, Du hast zu glauben.“. Da habe ich gedacht: „Na der ist vielleicht doof. Wozu habe ich einen Verstand?“ Da war es für mich gegessen. Den habe ich nie wieder gefragt.“

Renate Bekheet macht sich auch weiterhin Gedanken, über das, was in der Kirche gesagt wird.
„ …Als ich immer in den Ferien bei meinen Großeltern war, hat mich mein Oma mit in die Kirche genommen und es war ja schon mitten im Krieg. Und jeden Sonntag hingen mehr Kränze in der Kirche von den Gefallenen. Der Pfarrer hat dann immer den Tod dieser gefallen Soldaten bekannt gegeben. Und das war ein Geschluchze in der Kirche. Es war furchtbar. Und am Ende seiner Predigt hat er für den Sieg der deutschen Soldaten gebetet. Ich bin mit meiner Oma nach Hause. Meine Oma hatte 6 Kinder und da habe ich gesagt: „Oma, wenn Deine Kinder sich streiten, welchem Kind hilfst Du?“ „Meine Kinder streiten sich nicht.“ Und dieses Wortgeplänkel ging hin und her, bis sie dann sagte: „Was soll Deine blöde Frage?“ Da habe ich gesagt: „Hast Du es nicht gehört? Der Pfarrer hat für den Sieg der deutschen Soldaten gebetet. Guckt mal, es sind doch alles Gottes Kinder: Russen, Franzosen, Polen, Engländer und die beten jetzt doch alle für den Sieg ihrer Soldaten. Wem soll denn Gott jetzt helfen?“ „Ach“, hat sie gesagt, „lass mich in Ruhe“.

Ihre Mutter schreibt ihr einen Brief aus dem Gefängnis und erzählt ihr über ihre Religion, aber sie erhält den Brief nicht. Ihre Tante versteckt ihn. Sie findet ihn später und hat viele Fragen dazu.
Als Renate Bekheet bei ihren Großeltern wieder zu Besuch ist, findet sie auf der Toilette Auszüge aus dem Bibelbuch Daniel. Sie ist nun überzeugt, dass ihre Eltern die richtige Religion haben.

(Musik)

Renate Bekheet ist 11 Jahre als ihre Mutter aus dem KZ Ravenbrück zurückkehrt. Marthel Leischnig ist nur noch Haut und Knochen. Sie hat ständig Hunger. Sie lebt nun wieder bei ihren Eltern und traut sich nicht, sich bei ihnen satt zu essen. Heimlich isst sie die Kartoffeln der Hühner und ranziges Hafermehl.
Es dauert einige Zeit bis es ihr gesundheitlich besser geht.

Durch einen SS-Mann bekamen Renate Bekheet und ihre Mutter wieder Kontakt zu ihrem Vater.
„Und dann haben wir eines Tages Briefe von einem SS-Mann bekommen. Der hieß Gassmann und der hatte Freundschaft im KZ mit meinem Vater geschlossen und jetzt konnten wir über diesen SS-Mann Brief an meinen Vater schicken und Pakete.“

Renate Bekheet hatte inzwischen Steno gelernt und schreibt Wachtturm-Artikel in Steno ab.
Diese überbrachte der SS-Mann unwissentlich ihrem Vater ins KZ-Buchenwald.

(Musikakzent)

Inzwischen hat Marthel Leischnig ihrer Tochter einiges über ihre Erlebnisse erzählt.

„Wie meine Mutter da war, hat die mir alles erzählt. Und ich war bei den Jungmädchen und hatte eine Uniform. Da hat meine Mutter gesagt: ‚Renate, erspar mir diesen Anblick. Wenn du da hingehst, zieh Dich nicht um, damit ich Dich nicht sehe’. Und da habe ich das ganze Zeug in den Waschkeller gebracht. Habe mich unten umgezogen und dann habe ich gedacht: Die Nazis waren so schlimm … Da gehst du jetzt nicht mehr hin.’ Und in der Schule habe ich nicht mehr ‚Heil Hitler’ gesagt.

Sie wird von dem Schulleiter oft bestraft.

Und deswegen wollten die mich in ein Erziehungsheim bringen, weil ich in der Schule das alles nicht mehr mitgemacht habe. Aber die kamen nicht mehr dazu. Die Russen waren schneller. Das war das Gute.“

(Musik)

Sechs Wochen nach Kriegende kommt auch Renate Bekheets Vater aus dem KZ zurück.
Da er nachweisen kann, dass er im KZ gewesen ist, müssen die Großeltern ihr Haus nicht den Russen überlassen. Auch wird die russische Kommandantur nicht in Bockau eingerichtet.

Leischnig_otto-martel-renate_PicknickNun ist die Familie wieder vereint. Marthel Leischnig lässt sich 2 Jahre später als Zeugin Jehovas taufen.
Die Deutsche Demokratische Republik wird 1949 gegründet. Anfangs werden auch Zeugen Jehovas als Opfer des Faschismus anerkannt. Im Sommer 1950 werden die Zeugen Jehovas verboten. Die Anerkennungen werden wieder aberkannt.
Die Stasi sah mit Besorgnis das Wachstum dieser Religionsgemeinschaft. Für sie vertraten die Zeugen Jehovas eine „rivalisierende Ideologie“.

(Musikakzent)

Renate Bekheet absolviert eine Ausbildung in der Landwirtschaft und zieht zu ihrem Onkel auf den Bauernhof. Sie soll später den Hof übernehmen.
Renate Bekheet nimmt die Lehren der Zeugen Jehovas an und verweigert die Teilnahme an der Wahl.

„Und dann war Bauernversammlung an dem Tag wo Wahl war. Ich war natürlich nicht dort. Und dann hat einer von den Kommunisten gesprochen und dann hat er gesagt: „Ja, hier Dorf hat eine nicht gewählt. Das sind Helfershelfer für die amerikanischen Imperialisten, das sind Kriegshetzer, Boykotthetzer und hat geschimpft. Und hat meinen Namen genannt.

Sie lässt sich 1950 auf einem Kongress in Berlin taufen. Die Stasi versucht vergeblich ihre Reise nach Berlin zu verhindern.
Als Renate Bekheet zurückkehrt wird sie verhaftet. Der Hof ihres Onkels wird durchsucht und ihre Notizen beschlagnahmt.

„Und dann sollte ich ihm die Notizen erklären, was das heißt, weil ich bei 1.Kor. 15 und so hat ich da alles, haben die gedacht, das wären alles so Geheimcodes. … . Da habe ich gedacht: ‚Die Bibelstellen kann ich denen ja nennen, …’ Und dann hat er mir die Notizen in die Hand gegeben, dass ich sie ihm erklären sollte und habe ich ritsch ratsch in tausend Fetzen zerrissen und hingeschmissen.“

Das Verhör dauert mehrere Tage.

„Und dann hat er, am dritten Tag hat er gesagt: ‚Haben Sie Hunger?’ ‚Ich habe 3 Tage nichts zu essen, nichts zu trinken gekriegt und nicht geschlafen.’ ‚Sie waren doch auf den Kongress. Soviel geistige Speise.’ Das hat er direkt so gesagt. ‚Ach so’, habe ich gesagt, ‚wenn Sie auf einer politischen Schulung waren, essen Sie wohl auch 8 Tage nichts.’ Haben die alle gelacht da drinne. Halbe Stunde später hatte ich einen Pott schwarzen Kaffee, aber keine Bohnenkaffee, mit einem Stück Brot. Das hat gewirkt.“

Ein höherer Stasi-Offizier aus Dresden verhört sie danach.

„Und dann hat er gesagt: ‚Wieso haben Sie die Notizen zerrissen vor den Augen der Polizei?’ Habe ich gesagt: ‚Weil ich die für mich gemacht habe und nicht für die Polizei.’ Das lachten die anderen wieder. Und dann hat er noch so ein paar Fragen gestellt. Und das hat (denen) imponiert, wenn Du schlagfertig bist. Und dann hat er gesagt: ‚Sie Rotzgöre, Sie Grünschnabel. Hauen Sie ab, verschwinden Sie.“ Und da bin ich rückwärts gegangen, die wollen mich jetzt erschießen von hinten. Aber ich will von vorne erschossen werden. Bin ich rückwärts. Haben die gesagt: „Die traut uns nicht. Die geht rückwärts zur Tür. Die traut uns nicht.“

Renate Bekheet missioniert weiter und trifft sich mit anderen Zeugen Jehovas. Ein behinderter und sehr kranker Glaubensbruder verrät die Gruppe.
Renate Bekheet wird mit den anderen erneut verhaftet. Alle kommen nach 2 Wochen wieder frei.
(Musik)

Renate Bekheet zieht nach Zeuthen Kreis Königs Wusterhausen bei Berlin und missioniert nach der Arbeit.

Sie versorgt die russischen Soldaten mit verbotener Literatur der Zeugen Jehovas. Die Russen rufen sie „Fräulein Wachtturm“.

„Und dann war ja noch die eine Geschichte, wo wir im Regen standen und die Russen auf uns zukamen … Und … wir haben uns mit denen unterhalten. Weil es so geregnet hat und die waren sehr, vertrauenswürdig sahen die aus. Die haben gesagt: ‚Wir setzen uns hier in den LKW.’ Die waren da mit dem LKW. Dann werden wir nicht so nass und die Unterhaltung würde sie interessieren. Und dann hat dieser eine Offizier gesagt, ja er wäre im kommunistischen Kinderheim groß geworden. Die Deutschen hätten seine Eltern umgebracht und er hätte noch nie eine Bibel gesehen. Wer ist Jesaja? Wer ist Mose? Und wir hatten wirklich eine tolle Unterhaltung, weil die andere Pionierin konnte auch ganz gut Russisch. Noch besser wie ich. Und dann habe ich denen auch Literatur gegeben. Und dann hat der, der andere war Mongole, das war sein Bursche. (Das) wussten wir aber nicht. Da habe ich dann gesagt: „Die Literatur ist verboten“. Das habe ich den Russen immer gesagt, damit sie die ein bisschen versteckten. … ich habe gesagt: ‚Ihr dürft das nicht große Offiziere zeigen.’ Und dann hat der Mongole gesagt: ‚Was ist denn großer Offizier?’ Und da habe ich gesagt: ‚Wer hier so viele Sterne hat.’ Da hat der gelacht. Der wurde nicht wieder. Hat er gesagt: ‚Weißt Du, wer das ist? Das ist zweithöchste Mann von der Regierung in Karlshorst.’ In Karlshorst saß die russische Regierung.“

Renate Bekheet wird gesagt, dass die Stasi die Person sucht, die die Literatur den Russen übergibt.

(Musikakzent)

Als sich die Gelegenheit ergibt, geht nach Lohm, Kreis Kyritz.

Ihre Missionsversuche werden vom Pastor beobachtet. Der Pastor schwärzt sie beim Bürgermeister an.

„Und da hat der Bürgermeister gesagt, der war Kommunist: ‚Ich war im KZ und da war ich mit Zeugen Jehovas zusammen und wenn die SS Maßnahmen gegen diese Menschen ergriffen hat, ist denen immer die Strafe auf den Fuß gefolgt. …. Ich unternehme gegen das Mädchen nichts. Die ist so fleißig.’“
„ …die waren sehr beeindruckt die Bauern, weil ich habe jede Arbeit gemacht. … Aber ich habe alle Maschinen bedient und bin mit die Pferde gefahren. Ich bin raus in die Koppel, ich habe 12 Kühe gemolken und manchmal noch mehr. Und dann bin ich zur Molkerei gefahren. Und da haben die Bauern schon immer gewartet und Fragen gehabt, haben mich gefragt. Und der Pfarrer hat schräg rüber gewohnt von der Molkerei und das hat er beobachtet. Und der, in der DDR gab es ja Karten bis in die 70er Jahre. Und das war ja Anfang 1950 und da war er nicht auf seine Karten angewiesen, Lebensmittelkarten, denn die Bauern haben ihm Butter, Speck, alles gegeben. Und der hatte jetzt Angst, die ganzen Bauern würden Zeugen und er würde nichts mehr kriegen. Und weil der Bürgermeister mich nicht angezeigt hat, ist er nach Potsdam und hat mich beim Stasi angezeigt.“ [Anm.: lt. Renate Bekheet haben die Bauern nicht mehr die Kirche besucht und der Pfarrer wurde versetzt.]

Renate wird wegen „verbrecherischer Spionagetätigkeit, Boykotthetze und Mordhetze gegendemokratische Politiker“ zu 10 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ihr Arbeitgeber erhält 8 Jahre.
Renate Beekhett kommt zuerst 3 Jahre nach Cottbus ins Gefängnis. Sie arbeitet dort als Hauptköchin.

„ … da wurde ich Hauptköchin für 5000 Leute, nich, da waren 3000, da waren drei 1000 l-Kessel. Da habe ich … auf dem Podest gestanden und die Rührlöffel waren wie vom Ruderboot solche Dinger. So habe ich die Suppe gerührt.
Und der Anstaltsleiter, der kam immer in die Küche. Der kannte meinen Vater vom KZ her. Und der wollte mir helfen, dass ich frei komme. Beim Hitler konnten die Zeugen unterschreiben, dass sie sich vom Glauben los sagen. Das gab es bei den Kommunisten nicht. Aber der hätte mir die Möglichkeit eingeräumt, wenn ich unterschrieben hätte, dass ich eben nicht mehr Zeuge sein würde, wäre ich frei gekommen.“

Renate Bekheet unterschreibt nicht.

(Musikakzent)

Durch Petra von Manteuffel, der Nichte des Generals [Anm.:Hasso von Manteuffel], bekommt sie eine Bibel. Die Bibel wird zerteilt und an viele Personen aufgeteilt.
Renate Bekheet erhält regelmäßig ein Paket von Ihrer Mutter, in dem Literatur versteckt ist.
So sind alle Zeuginnen Jehovas immer mit biblischer Literatur versorgt. Renate Bekheet gibt in der Nachtschicht die Literatur an die Glaubensbrüder weiter. Bei einer Razzia findet die Stasi Literatur. Sie verdächtigen sofort Renate Bekheet und entfernen sie aus der Küche.

Später wird Renate Bekheet in das Gefängnis Hoheneck bei Stollberg im Erzgebirge überstellt.
In Hoheneck sind zum Teil um die 100 Zeuginnen in einen Saal zum Schlafen untergebracht.
Sie halten sogar ihren Gottesdienst in dem Saal ab.
Sie wird für ein Vierteljahr von den Zeuginnen getrennt und zu den kriminellen Frauen verlegt. Die meisten der Frauen sind lesbisch.
Als die Stasi merkt, dass sie ihrem Glauben nicht abschwört, kommt sie zurück zu den Zeuginnen Jehovas.

In Hoheneck gibt keine Kanalisation, viele Inhaftierten stecken sich mit TBC an. Renate Bekheet setzt sich dafür ein, dass die Kanalisation gebaut wird.

„Wir mussten in erzgebirgischen Felsenboden, denn Stollberg ist ja Erzgebirge, 6 Meter tiefe Gräben machen. Und Freiheitsleute, Firmen von draußen haben dann die Rohre gelegt und die haben auch abgestützt. Dann mussten wir von ganz unten auf den Podest schaufeln, dann raus und über die Mauer. Und ich war immer sehr kräftig, weil ich aus der Landwirtschaft kam und ich habe dann manchmal für 2 ältere Schwestern mitgeschaufelt. Ich habe denen das hingeschaufelt, sag: ‚Macht langsam.’ Und dann bin ich hingerannt und habe es wieder zur nächsten und dann wieder. Und das haben die vom Turm beobachtet, aber die haben nichts gesagt. Die haben, die haben nur gesehen, wie wir zusammenhalten. Das hat die schon auch beeindruckt. Und dann hatten wir endlich Kanalisation. … da hatten wir auf jeder Zelle eine Toilette. Das war eine große, große Erleichterung. Das war aber in Hoheneck. In Cottbus hatten sie immer noch die Kübel.“

(Musikakzent)

Nach fast 5 Jahren Haft kommt sie überraschend frei.
Sie fängt sofort wieder an zu missionieren und gerät an das Haus eines Polizisten. Sie wird 4 Stunden verhört, darf aber wieder gehen.
Sie setzt sich am nächsten Tag nach Berlin ab und geht später in den Westen.
Hier setzt sie ihren Missionsdienst fort und kommt über einige andere Stationen nach Witzhausen.
Sie heiratet in Witzenhausen, bekommt Kinder und führt mit ihrem Mann eine Wäscherei.
Nach der Scheidung heiratet sie erneut und adoptiert 2 Kinder.

Inzwischen lebt sie allein. Sie ist mit über 80 Jahren noch immer ein wenig für die Wäscherei tätig und missioniert.

Bluthochdruck, Rückenprobleme und Herzprobleme behält sie als Folgeschäden aus der Haft zurück
Obwohl das Leben nicht immer gut zu ihr war, hat sie ihre positive Lebenseinstellung nicht aufgegeben.

Sie wurde von der „Freien Altenarbeit“ in Göttingen zum „Erzählcafé eingeladen, um ihre Geschichte zu erzählen. Roland Müller hat sie interviewt.
(Gedicht und Lied Meta Kluge 1957 in Hoheneck entstanden „Und wieder blühn dort draußen tausend Blumen“)

© Ingeborg Lüdtke

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— Renate Bekhet verstarb am 16.09.2017- –

Die Familienfotos stammen aus dem Privatbesitz von Renate Bekheet, die auch die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung erteilt hat.

Weiterführende Literatur:

Sybylle Plogstedt, Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der Wiedervereinigung. Psychosozial-Verlag

Falk Bersch/Hans Hesse, “Wie ein dumpfer Traum, der die Seele schreckt”. DDR-Frauenvollzugs in Bützow-Dreibergen nach autobiografischen Aufzeichnungen von Meta Kluge . s.218, Klartext Verlag, 2006

Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Heyne Taschenbuch 19/9. 39. Auflage (10. Auflage dieser Ausgabe), 2001. Seite 218, Bericht von Otto Leischnig

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