Ausschnitt aus der Radiosendung “Noah Klieger im Audimax Nordhausen” ausgestrahlt im StadtRadio Göttingen am 11. November 2010
Der 80 jährige Noah Klieger ist zurückgekehrt (2007) an den Ort, an dem er viel leiden musste. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht über seine Inhaftierung in den KZ´s Malines (Mechelen), Auschwitz, Mittelbau-Dora und Ravensbrück zu berichten. Vor ihm sitzt in dem Vorlesungssaal der Gedenkstätte Mittelbau-Dora eine Schulklasse. Sie sieht ihm sein Alter nicht an. Obwohl er nicht größer als 1,70 m sein mag, ist er eine imposante Erscheinung. Die schlohweißen Haare sind nach hinten gekämmt. Die Nackenhaare fallen in einer Innenrolle auf den Kragen der schwarzen langen Lederjacke. Eine Hand steckt in der Hosentasche und sein muskulöser Oberkörper wird versteckt durch das geschlossene braune Stoffhemd. Die schwarze Stoffhose passt zu den modernen schwarzen Lederschuhen.
Er verzichtet darauf, sich interviewen zu lassen. Als noch tätiger Journalist hält er den Veranstaltungsverlauf lieber selbst in der Hand. Er steht hinter einem Stuhl, dessen Sitzfläche ihm zu gewandt ist.
Der gebürtige jüdische Straßburger spricht perfektes Deutsch mit einem leichten weichen französischen Akzent. Er beginnt seine Erzählung mit der Verladung von ca. 150 Häftlingen in einen Viehwaggon. Sie befinden sich in Gleiwitz in Oberschlesien. Sie haben nichts zu essen und zu trinken. Menschen werden zu Tode getrampelt. Leichen liegen in Schichten aufeinander. Lebende sitzen auf den Toten. Am 1.2.1945 kommen sie Dora an. Sie werden in dem Kinosaal untergebracht.
Er erzählt flüssig, distanziert, sachlich. Zu sachlich. So als ob es nicht seine Geschichte ist.
Ihm wird dies bewusst und er merkt an, an dass es nicht so leicht war, wie es sich anhört.
Noah Klieger wird persönlicher und berichtet, dass er sich als französisch-politischer Gefangener ausgab. Er erhält einen roten Winkel mit einem F. Die SS sucht eine Gruppe Feinmechaniker. Er hat zwar keine Ahnung davon, besitzt aber als alter Häftling ein Gespür dafür, wann es gut ist, sich für einen Einsatz zu melden oder nicht. Andere die dieses Gespür nicht haben, melden sich unbewusst für Vernichtungstransporte.
Er muss eine Prüfung als Feinmechaniker ablegen. Wenn er sie nicht besteht, wird er aufgehängt.
Nur ein Wunder kann ihn retten. Die Schüler sind Mucksmäuschen still. Kein Flüstern, kein Räuspern.
Wird das Wunder geschehen? Noah Klieger lässt sie nicht teilhaben an seinen Ängsten, seinen Hoffnungen. Setzt seinen Bericht sachlich fort: Ein französischer Häftling verteilt die Prüfungsbogen und verschafft ihm die Lösungen. Er ist als Erster fertig. Er ist der Beste. Im Atelier besteht er auch die 2. Prüfung. Im Stollen ertönt die Frage: „Wer kann Deutsch?“. 5 Häftlinge melden sich. 2 Juden werden niedergeschlagen. Ihm hilft sein gutes Gedächtnis. Er kann sich gut an die Erzählungen seines Vaters über eine Münchner Kneipe erinnern. Der SS-Mann kennt die Kneipe. Dies hilft ihm. Er wird Vorarbeiter und gehört zu den Leuten des Mittelwerk-Betriebsdirektors Sawatzki und erhält etwas bessere Verpflegung. Er ist an dem Bau der Rakete V2 beteiligt.
Sie arbeiten langsam und schlampig. Verzögern die Produktion.
Nordhausen wird zerbombt.
Als das Lager evakuiert wird, wandert er ohne Verpflegung 10 Tage durch den Harz. Er lernt wie man im Schlafen gehen oder im Gehen schlafen kann. Die zweite Reihe der Marschierenden liegt im Gehen auf den Schultern der ersten Reihe.
Am 14.4.1945 kommt er in Ravensbrück an und wird am 29.4.1945 von der Roten Armee befreit.
Während er über die Befreiung spricht, nimmt er wieder die Rolle des Beobachters ein. Er berichtet wie zwei russische Offiziere beim Anblick der Leichenberge und dem Verwesungsgeruch in Ohnmacht fallen. Seine eigenen Empfindungen lässt er außen vor.
Nun bittet er die Schüler Fragen zu stellen. Die Schüler zögern. Er deutet an, dass er dann ja gehen könne. Zögerlich kommen die Fragen.
Jemand fragt, ob er seine Eltern wieder getroffen hat. Er hat beide Eltern wieder getroffen. Beide überlebten Auschwitz.
Warum ist er wieder an die Orte seines Leidens zurückgekommen?
Die Reise nach Ausschwitz ist für ihn eine Pilgerfahrt zu nichtvorhandenen Gräbern. Eine Hommage an die Toten. Außerdem ist es der Wunsch jedes Häftlings, der in Auschwitz war, als freier Mensch rein und raus gehen zu können.
Hat er traumatische Erinnerungen? Nein. Er konnte immer darüber erzählen. Andere haben Selbstmord begangen.
Eine Frau – später erfahre ich, dass es die Lehrerin ist – meldet sich, fragt nach dem Grund seiner Verhaftung.
Er reagiert sehr heftig. Er verlässt seinen Platz hinter dem Stuhl. Geht in den mittleren Gang, stellt sich vor ihre Reihe. Einige Stühle sind zwischen ihnen. Heftig sagt er: „Weil ich Jude bin! Wenn Sie das bis jetzt noch nicht mitbekommen haben, tun Sie mir leid.“ Er stapft wieder nach vorn. Ist ärgerlich.
Es ist still im Vorlesungssaal. Kein Raunen, kein Stirnrunzeln.
Welche Gedanken hielten ihm an Leben? Er wollte einen Tag nach Hitler leben, wollte überleben.
Hatte er Freundschaften in Dora? Ja, nur wenige Freunde. Oft kannte er die Namen nicht. Es gab Interessensgemeinschaften.
Hat es einige Mithäftlinge wieder getroffen? Ja seinen Freund Elie Wiesel und welche aus dem Block.
Die Schüler schweigen, wissen nicht was sie noch fragen sollen. Er ist irritiert. Gekränkt. Provoziert. „Hier steht einer der letzten Auschwitzüberlebenden. Bald gibt es keinen mehr. Wenn keine Fragen mehr sind, dann fahre ich jetzt nach Berlin“, sagt er fast trotzig. Die Schüler schweigen weiter. Spüren sie, dass sie nie die Geschehnisse des Lagers vollständig begreifen können? Dass sie es nicht schaffen können, ihn aus der Erzählerrolle zu drängen, damit er von seinen eigenen Leiden und Gefühlen spricht?
Er geht durch den Zwischengang Richtung Tür und wird von einigen Schülern und einem Begleiter angesprochen.
Vieles bleibt ungefragt. Vieles ungesagt.
Die Schüler erfahren nicht, dass er unter den mehr als 4500 Holocaust-Überlebenden war, die auf dem baufälligen Schiff „Exodus“ von Europa nach Palästina reisten, aber dort nicht bleiben durften.
(c) Ingeborg Lüdtke
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Buchempfehlung: Noah Klieger hat seine Erlebnisse in dem Buch “12 Brötchen zum Frühstück” niedergeschrieben.