Reisebericht vom 29. April 2024
Der Zug soll um 7.06 h abfahren. Als ich auf den Bahnsteig komme, steht der Zug schon 10 Minuten früher zum Einsteigen bereit. Ich deute dies als gutes Zeichen dafür, dass ich meinen Anschlusszug mit ca. 11 Minuten Zeit zum Umsteigen erreichen werde. Die Abfahrt verzögert sich durch einen vorausfahrenden Zug um 5 Minuten.
Während der Fahrt geht eine weibliche Servicekraft durch die Abteile und fragt, ob jemand Kaffee wünscht. Sie schenkt heute zur Bestellung ein Croissant dazu.
Wir erhalten beim Hauptbahn Braunschweig keine Einfahrtserlaubnis. Als wir endlich weiterfahren, ist mein Anschlusszug bereits abgefahren. Der Bahnmitarbeiter an der Info erklärt mir, dass der nächste durchgehende Zug um 9.10 h fährt. Dadurch habe ich eine Stunde Aufenthalt.
In der Bahnhofshalle sehe ich einen Mann und zwei Frauen mit zwei JW.org-Trolley´s stehen. Ich spreche sie an. Es stellt sich heraus, dass das Ehepaar und die junge Frau sich auch erst heute kennengelernt haben. Der Mann erzählt mir, dass er in Namibia geboren wurde und als Weißer zum Schluss wegen der Rassenunruhen gefährlich gelebt hat. Er sei deshalb nach Deutschland gekommen, wo seine Tochter lebt. Hier sei es sicherer als in Namibia. Seine Frau erzählt mir, dass es gefährlich war, die Kinder als Weiße allein in die Schule zu schicken. Sie hätten ihre vier Töchter immer zur Schule gefahren und auch abgeholt.
Bis kurz vor der Abfahrt des nächsten Zuges setze ich mich noch in den abgetrennten Wartebereich und lese. Dieser Zug hat nur 5 Minuten Verspätung. Das macht nichts, da ich ja keinen Anschlusszug erreichen muss.
Ankunft und Fußmarsch zur Gedenkstätte „Roter Ochse“
Gegen 10:50 h bin ich in Halle am Hauptbahnhof. Die benötigte Linie 7 der S-Bahn fährt nicht direkt am dem Hauptbahnhof Halle ab. Das Tagesticket ist nur über eine mir unbekannte Bezahl-App zu erhalten. Ich entschließe mich deshalb zu Fuß zur Gedenkstätte zu gehen. Laut dem Google-Routenplaner werden 38 Minuten veranschlagt.
An einer Häuserwand lese ich deutsche Sprichwörter wie: „Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ „Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben.“ Wie wahr.
Mein Weg führt mich am Landesgericht vorbei. Es ist ein riesiges sehr edel verziertes Gebäude mit Türmen. Rechts sehe ich auch das Fahnenmonument (Flamme der Revolution)
Eigentlich hätte ich weiter Richtung Theater gehen müssen, biege aber in die Große Steinbreite ab. Ein Schild zeigt nach rechts in Richtung Jugendherberge. Gleich auf der Straßenecke steht das schöne historische Stadtbad. Mir fällt schnell die Widersprüchlichkeit in Halle auf: Schöne alte Gebäude reihen sich an Neubauten oder Gassen führen zu alten renovierungsbedürftigen Häusern.
Mehrmals frage ich nach dem Weg und zeige meinen Stadtplanauszug. Ich bezweifle, dass man mich immer richtig führt. Bei der S-Bahnstation „Am Steintor“ sagt mir eine Dame, dass ich zu weit weg wäre und wieder per S-Bahn zurückfahren solle. Ich laufe dann bis zum Park vor dem Theater zurück. Irgendwann sehe ich dann auch Hinweisschilder zur Gedenkstätte.
Bei der Moritzburg (schöne trutzig wirkende Burg) sind die vielen Hinweisschilder verwirrend. Zur Gedenkstätte geht es angeblich auf der rechten Seite über ein eingezäuntes Grundstück weiter. Irgendein Witzbold hat das Schild etwas verdreht. Ich entschließe mich erstmal den Berg hinunterzugehen und wechsle die Straßenseite. Ich frage einen Mann nach dem Weg. Er sagt, dass ich hier zwar weitergehen könne, aber ich könne auch wieder nach oben gehen und dann in die erste Straße links einbiegen. Diese Variante scheint mir die sicherste zu sein. Leider zieht sich der Weg noch hin. Eine Dame versichert, dass es nicht mehr weit sei, wenn ich links in die Straße „Am Kirchtor“ einbiegen würde.
Aus dem Gebäude, das zur JVA gehört, kommen eine ältere Frau und eine Jugendliche heraus. Die ältere Frau spricht mich und fragt, ob ich aus Halle wäre und wüsste, wo es einen Bankautomaten gäbe. Da kann ich leider nicht weiterhelfen. Stattdessen frage ich, ob sie auch zur Ausstellung wollen. Sie antwortet: „Wir warten noch auf (einen) Besuch um 13 h.“ Da ich vermute, dass der Eingang dort ist, wo die beiden herauskamen, klingele ich. Die Dame an der Sprechanlage schickt mich noch ca. 25 m weiter bis zur Glastür, dem korrekten Eingang.
Es ist inzwischen sehr warm geworden, wärmer als vorausgesagt.
Statt 38 Minuten habe ich eine ganze Stunde für den Fußweg benötigt. Auf diese Weise habe ich aber auch Teile der Stadt gesehen, die man sonst nicht sieht.
Da die Gedenkstätte bis 14 h geöffnet ist, habe ich noch zwei Stunden Zeit.
Dauerausstellung in der Gedenkstätte „Roter Ochse“
Zunächst interessiert es mich, was es mit es mit dem Namen „Roter Ochse“ auf sich hat und wozu die Haftanstalt im Laufe der Jahre benutzt wurde.
Auf der Webseite der Gedenkstätte „Roter Ochse“ liest man:
„Die Haftanstalt »Roter Ochse« in Halle diente ab 1933 der Internierung politischer Gegner des nationalsozialistischen Regimes. Von 1942 bis 1945 vollstreckte die nationalsozialistische Justiz hier auch Todesurteile. Nachdem von 1945 bis 1950 Sowjetische Militärtribunale abgehalten wurden, nutzte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR Teile des Gebäudekomplexes. Die Gedenkstätte »Roter Ochse« wurde im Februar 1996 eröffnet.“ (Quelle: Landesportal Sachsen-Anhalt)
Die Herkunft des Namens „Roter Ochse“ ist unklar. Es wird vermutet, dass es sich auf die Farbe des Mauerwerkes des Gebäudes bezieht.
Ich beginne den Rundgang im Erdgeschoss.
In einigen Ausstellungsräumen hängen links und rechts große Informationstafeln, die zusammengeschoben sind. Man kann die Tafeln einzeln herausziehen.
Die Ausstellung berichtet vom Beginn des Machtwechsels im Jahre 1933 bis zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Anfangs wurden Personen, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden in sogenannte „wilde“ Schutzhaftlager eingewiesen. Besonders gefährdet waren Funktionäre der KPD, SPD, Gewerkschafter und Demokraten. Auf der Tafel erwähnt werden Fritz Drescher (SPD) und Adolf Herbst (SPD).
Ab Juni 1933 wurden die Inhaftierten der „wilden“ Schutzhaftlager in das KZ Lichtenburg/Torgau inhaftiert. „Wilde“ Schutzhaftlager gab es in Halle nicht mehr.
Schon im Frühjahr 1933 verbüßten zahlreiche politische Gegner und aus rassischen oder religiösen Gründen Verfolgte im „roten Ochsen“ eine mehrjährige Gefängnis- und Zuchthausstrafe. Zu diesen Verfolgten gehörten Kurt Just (Jude), Otto Gomann (Sinti/Roma) und Rudolf Auschner (Zeuge Jehovas damals Bibelforscher genannt).
Ab Herbst 1935 wurden zu Zuchthausstrafen verurteilte Männer in den „Roten Ochsen“ eingeliefert. Es gab auch eine Untersuchungshaftabteilung. 1938 befanden sich 790 Gefangene in der Haftanstalt: Politische, Kriminelle und Kriminalisierte. Durch neue Gesetze konnte man schon wegen kleineren Delikten oder Gesetzesübertretungen zu unverhältnismäßigen hohen Strafen verurteilt werden. Wer zum Beispiel während der Verdunkelungsmaßnahmen gegen Bombenangriffe Diebstähle beging, konnte zum Tode verurteilt werden. Auch das Abhören eines ausländischen Feindsenders und das Verbreiten der gehörten Nachrichten konnte zum Tode führen.
Seit Kriegsbeginn wurden Ausländer eingeliefert. Ab Herbst 1942 wurden zum Tode Verurteilte eingeliefert und hingerichtet. Ende März 1945 gab es auch Frauen im Zuchthaus.
Ein Teil der Gefangenen arbeitete gegen einen sehr geringen Lohn in den Werkstätten der Anstalt: Schlosserei, Tischlerei, Schneiderei, Schuhmacherei, Sattlerei, Schriftsetzerei, Druckerei, Buchbinderei, Briefumschlagfertigung und Stempelbetrieb. [Im unterem Bereich der Ausstellung kann man noch einige der Werkstätten ansehen.]
In Außenkommandos arbeiteten einige Gefangene beim Bau von Schleusen im Steinbruch oder bei Bombenräumungsarbeiten.
Entlassungen aus dem Zuchthaus
Es gab auch Entlassungen, allerdings mussten sich die Gefangenen noch überlängere Zeit bei der Polizei melden. Andere Häftlinge wie KPD- und SPD-Funktionäre und Zeugen Jehovas wurden nach ihrer Entlassung wieder in „Schutzhaft“ genommen und später in ein Konzentrationslager gebracht.
Häftlinge im Krieg eingesetzt
Die neugegründete Bewährungstruppe 999 der Wehrmacht sollte es den Gefangenen ermöglichen ihre Wehrwürdigkeit zurück zu erhalten. Am 29.2.1944 wurden 50 Häftlinge des „Roten Ochsen“ dorthin eingezogen.
Sondergericht Halle
In jedem Oberlandesgerichtsbezirk gab es ein Sondergericht. Am dem 13. April 1933 fanden die ersten Verhandlungen in Halle statt.
Die Sondergerichte unterschieden sich erheblich von den „ordentlichen Gerichten“. Sie konnten ihre Urteile schneller vollstrecken, auch war eine Berufung unmöglich. Es gab keine gerichtliche Voruntersuchung, das Verfahren konnte sehr kurzfristig angesetzt werden, die Zulassung von Verteidigern und Entlastungszeugen konnte abgelehnt werden.
Während des zweiten Weltkrieges verhängte das Sondergericht Halle fast 100 Todesurteile.
Todeszellen
Einige ehemalige Todeszellen sind begehbar. Sie sehen alle gleich aus. Geradeaus befindet sich ein Fenster mit Sprossen. Bei einer Zelle kann man an der Wand noch an zwei Stellen, die Originalwand sehen. In einer der Todeszellen hängt ein Bild mit zwei alten Frauen, die wegen Diebstahls hingerichtet werden sollten. Glücklicherweise wurden die beiden noch rechtzeitig von den Amerikanern befreit.
Eine der Hinrichtungsstellen weist von außen darauf hin, dass hier Audiodateien eingesetzt werden. Der Raum ist etwas abgedunkelt. Ich kann die ersten Geräusche nicht einschätzen und höre dann immer wieder eine männliche Stimme sagen: „Es sind Menschen, es sind Menschen.“
Ich frage mich: „Wie abgestumpft mussten die Scharfrichter (Henker) sein, um sehr viele Menschen hinzurichten zu können? Wussten sie, welche Straftaten die Verurteilten begangen hatten? Hatten sie keine Gewissensbisse jemanden zu töten, der lediglich etwas gestohlen hatte?“
Die erklärende Tafel zu dem „Klangraum“ lese ich erst später. Es soll den Herzschlag der Todeskandidaten anzeigen, so wie einen Dialog des Gewissens. Viele Fragen werden aufgeworfen, wie zum Beispiel: „Was unterscheidet einen Henker von einem Mörder? Wofür würde man selbst töten? Darf der Staat im Namen der Gerechtigkeit selbst töten?“
Hinrichtungsstätte
In einem riesigen Raum mit zwei zugestellten Türen an der linken Seite ist am Ende des Raumes noch ein Teilstück des Original-Fußboden der Hinrichtungsstätte zu sehen. Ein Gully und eine Abflussrinne für das Blut sind auf den historischen Pflastersteinen vorhanden.
Ich bin dankbar, dass hier keine Guillotine aufgestellt ist. Die einfache Andeutung für den Todesort und die Todesart reichen völlig aus.
Scharfrichter
In einem anderen Raum behandeln die Infotafeln die Hinrichtungsstätte und die Scharfrichter.
In einer Glasvitrine steht ein Stuhl (von insgesamt vier Stühlen), den die Gefangenen für den Scharfrichter Alfred Roselieb angefertigt haben.
Der erste Gefangene wurde am 23. November 1942 hingerichtet. Bis April 1945 töteten drei Scharfrichter und ihre Gehilfen über 500 Verurteilte.
Oft wurde der Beruf des Scharfrichters über Generation von derselben Familie ausgeführt. Nur von Ernst Reindel ist bekannt, dass er seinen Beruf aufgab.
Dies war aber keine Reaktion aufgrund von Gewissensbissen, sondern aus steuerlichen Gründen und auch weil er sich mehr um seine Abdeckerei (Tierkörperbeseitigungsanstalt) kümmern wollte.
Nachkriegszeit: Verurteilung und Hinrichtung
Mehrere Scharfrichter und ihre Gehilfen des Zuchthauses Halle wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht interniert oder von der deutschen Justiz in der Nachkriegszeit angeklagt.
Ernst Reindel und weitere Scharfrichter oder Scharfrichtergehilfen wurden durch ein sowjetisches Militärtribunal am 17. Juni 1945 zum Tode verurteilt.
Bestattungen
Gerichte bestimmten, was mit den Leichen der Hingerichteten passieren sollte. Zum Teil wurden sie eingeäschert und in Grabstellen des Gertraudenfriedhofes in Halle beigesetzt.
Einige Leichen wurden den Anatomischen Instituten der Universitäten Halle und Jena zu Lehr- und Forschungseinrichtungen übergeben.
Sonderausstellung „Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas 1933-1945“.
Im 1. Stock befindet sich noch bis zum 17.Mai 2024 die Sonderausstellung „Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas 1933-1945“.
Im Treppenhaus (Treppenpodest) steht ein Gedenkstättenmitarbeiter mit einem jungen Pärchen.
Ich biege in den linken Zellengang ab und gehe in die erste linke Zelle. Die Zellentür ist royalblau. Da ich doch relativ kaputt bin und die Texte auf Tafeln unter der Decke hängen, setze ich mich auf den Hocker und lese. Ich höre Stimmen im Gang. Plötzlich fällt die Zellentür laut ins Schloss. Da die Zelle aber durch die Ausstellungsräume noch einen anderen Ausgang hat, mache ich mir keine Sorgen.
–Wie mag wohl den damaligen Gefangenen zu Mute gewesen sein, wenn die Tür in laut ins Schloss krachte und es keinen anderen Ausgang gab? Sicher fragten sie sich: „Wie wird es nun weitergehen? Werde ich jemals wieder freikommen?“–
Kurze Zeit später wird die Tür wieder geöffnet und der Gedenkstättenmitarbeiter und das Pärchen kommen herein. Ich sage zu ihm: „Ich dachte schon, Sie wollen mich einsperren.“ Er sieht mich sichtlich irritiert und sprachlos an. Der Mitarbeiter setzt kurze Zeit danach seine Erklärungen fort und verlässt mit dem Pärchen die Zelle.
Offener Protest gegen die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes
Die ersten Info-Tafeln informieren über Protest-Aktionen der Bibelforscher (wie die Zeugen Jehovas damals genannt wurden) gegen die Verfolgungsmaßnahmen der NS-Regimes. Einzelne Protestaktionen und die durchführenden Personen werden genannt.
Am 9. Februar 1934 sandte der Leiter der Weltzentrale der Zeugen Jehovas in New York, Joseph F. Rutherford, einen Protestbrief an Adolf Hitler. Er forderte ihn auf die Verfolgung einzustellen und falls bis zum 24. März 1934 von Seiten der Regierung nichts getan würde, würden Zeugen Jehovas in anderen Ländern über die ungerechte Behandlung berichten.
Da die Zeugen Jehovas weiterverfolgt wurden, wurde im September 1934 auf einem Kongress in Basel aufgefordert, eine große Protestkampagne durchzuführen. Alle deutschen Ortsgruppen sandten am 7. Oktober 1934 Protestbriefe an die Reichsregierung. Aus Europa und aus den USA wurden 20.000 Protesttelegramme aufgegeben.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. In ganz Deutschland wurden Zeugen Jehovas verhaftet.
Durch Denunziation von Seiten der Bevölkerung wurden einige Zeugen Jehovas verhaftet und einige davon wurden in ein Konzentrationslager überstellt. Einige Info-Tafel zeigen diesbezüglich die Berichte der Polizei.
Dokumentiert sind auch Postüberwachungen einzelner Zeugen Jehovas.
„Offener Brief“
Am 20. Juni 1937 wurden Zehntausende Exemplare des „Offenen Briefes“ in ganz Deutschland verteilt. Der Brief beschrieb die brutalen Verfolgungspraktiken der Nationalsozialisten, sowie die menschenverachtenden Zustände in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern.
Auf Grund dessen gab es eine weitere Verhaftungswelle.
Auf einer Info-Tafeln ist die erste Seite des offenen Briefes abgebildet und darunter eine mehrseitige Anklageschrift gegen Gertrud Pötzinger. Einer der vielen Haftgründe war die Verteilung des „Offenen Briefes“.
Diese Anklageschrift gegen Gertrud Pötzinger ist für mich sehr interessant, da ich mit ihr 2001 ein telefonisches Interview für meine Radiosendung und mein späteres Hörbuch „Übrigens…wir sind die Letzten“ geführt habe. Das Hörbuch behandelte das Frauen-KZ Ravensbrück und verschiedene Opfergruppen.
»Luzerner Resolution«
Auch Martin Pötzinger, der Mann von Gertrud Pötzinger, war sehr engagiert tätig und organisierte die Verbreitung der »Luzerner Resolution« am 12. Dezember 1936 in München. Er wurde verhaftet und nach Verbüßung der Gefängnisstrafe in das KZ-Dachau überstellt.
Die erste Seite der Resolution ist auf einer der Info-Tafel abgebildet. Die »Luzerner Resolution« wurde auf dem Kongress in Luzern verabschiedet und verurteilte scharf die Unterdrückung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Ein zweites Mal wurde die »Luzerner Resolution« im Februar 1937 in einigen Teilen Deutschlands verteilt.
Auch die Info-Tafel über Martina Parsch ist für mich interessant, da sie nach ihrer Gefängnisstrafe in das frühe Frauen-KZ Moringen bei Göttingen eingeliefert wurde. Der Historiker Hans Hesse stellte bei seinen Recherchen fest, dass im Dezember 1937 in Moringen nahezu 90% aller Häftlinge Zeuginnen Jehovas waren.
Broschüren und Zeitschriftenartikel
Die Zeugen Jehovas verbreiteten nicht nur Flugblätter und Briefe. In ihren Zeitschriften und Broschüren wurde über die Verhältnisse in den deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern berichtet. Sie wurden auch international verbreitet. Auf die Leiden anderer Opfergruppen wurde ebenfalls aufmerksam gemacht.
Die Broschüre „Faschismus oder Freiheit“ wurde in millionenfacher Auflage in Bern gedruckt. Sie wurde in vierzehn Ländern verbreitet. Da die Schweiz sich politisch neutral verhalten wollte, verbot sie die Broschüre.
In der Zeitschrift „Trost“ (später „Erwachet“) wurde ein Augenzeugenbericht (Exponat) von Robert Arthur Winkler abgedruckt. Er berichtete über die Misshandlungen von Zeugen Jehovas und anderer Häftlinge im Konzentrationslager Esterwegen in der Zeit 1934/35.
Buch „Kreuzzug gegen das Christentum“
Ein Originalexemplar des Buches von Franz Zürcher „Kreuzzug gegen das Christentum“ hängt in einer kleinen Glasbox. Es erschien 1938 im Europa Verlag in Zürich. Es werden im zweiten Teil des Buches sehr viele Beispiele der grausamen Verfolgung und Behandlung in Gefängnissen und Konzentrationslager aufgezeigt. Thomas Mann, der damals in der Schweiz lebte, bekam ein Exemplar geschenkt. Seine Reaktion auf die Verbrechen kann man in seinem Brief vom 2. August 1938 lesen.
Im Deutschen Reich gab es ca. 25.000 Zeugen Jehovas, von denen ca. 10.700 Zeugen Jehovas verfolgt wurden. Ungefähr 8.800 Gläubige wurden inhaftiert, davon wurden ca. 2.800 in Konzentrationslager eingeliefert.
Einer der Gründe ihrer Verhaftung war ihre Weigerung Kriegsdienst zu leisten oder auf unterschiedlichstem Weg die Kriegsdienstverweigerung zu unterstützen. Auf Kriegsdienstverweigerung stand ab 1939 die Todesstrafe.
Über 50 von ihnen wurden im Zuchthaus „Roter Ochse“ in Halle hingerichtet.
Insgesamt verloren über 1000 Zeugen Jehovas aus unterschiedlichen Gründen zwischen 1933-1945 ihr Leben.
„Sowjetische Militärtribunal und MfS-Untersuchungshaftanstalt“
Ich laufe nun in die 2. Etage. Hier befindet sich die Dauerausstellung „Sowjetische Militärtribunal und MfS-Untersuchungshaftanstalt“.
Viele Exponate erinnern mich an das Stasi-Museum „Runde Ecke“ in Leipzig.
Zu sehen ist zum Beispiel ein Vernehmungsraum der ehemaligen MfS-Untersuchungshaftanstalt oder eine Nachbildung einer Zelle mit Möbeln und Toilettenkübel. Eine Tafel berichtet von den Vernehmungen mit den Methoden ein Geständnis zu erhalten.
In einem Raum wird in einem Glaskasten die fotografische Erfassung der Häftlinge nachgestellt. In einem anderen Raum ist ein Fotolabor zu sehen.
Ein Teil der Ausstellung zeigt auf Tafeln Einzelschicksale und deren Verhaftungsgründe. Verhaftungsgründe waren beispielsweise ein Antrag zur Ausreise, soziales Engagement für Jugendliche, Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, antisowjetische Propaganda oder Fluchtversuche.
Widerstand im Haftalltag gegen die Isolation gab es in verschiedenen Formen: verbotene Kontaktaufnahme zu anderen Häftlingen, Nahrungsverweigerung oder sogar Freitod.
Bespitzelung und Spionageanwerbung
Mitgefangene bespitzelten ihre Zellengenossen und dienten als Informanten.
Es fanden auch Versuche zur Anwerbung für die Spionagetätigkeit im „Roten Ochsen“ statt. Ein Beispiel ist der Fall des SPD-Mitgliedes Willi Brundert.
Manche Häftlinge durften in der Küche, der Wäscherei oder Werkstätten arbeiten, anderen wurde das Arbeiten untersagt.
Freikauf von politischen Häftlingen durch die BRD
Bekannt ist das seit 1963 jährlich 1000-1500 politische Häftlinge von der Bundesrepublik Deutschland (BRD) aus der DDR freigekauft wurden. Pro Häftlinge bezahlte die BRD anfangs 40.000 DM und später sogar 96.000 DM als „Ausbildungsentschädigung“.
Eine Info-Tafel zeigt ein Organigramm des Aufbaus der MfS-Bezirksverwaltung Halle.
Verfolgung der Zeugen Jehovas und „Jungen Gemeinde“ (evang.)
Zu den ersten Häftlingen der DDR im „Roten Ochsen“ gehörten die Zeugen Jehova, obwohl die DDR den Kirchen und Religionsgemeinschaften die freie Ausübung ihres Glaubens garantierte. Am 31. August 1950 wurden die Zeugen Jehovas verboten. Mehr als 100 Zeugen Jehovas wurden in den „Roten Ochsen“ eingeliefert. Einige davon waren bereits von den Nationalsozialisten verfolgt worden. Einer von ihnen war Konrad Drebinger.
Die SED verfolgte auch misstrauisch die Jugendarbeit der evangelischen Kirche. Die Jugendgruppe einer Kirchengemeinde wurde auch Junge Gemeinde genannt. In der Jugendgruppe konnte jeder seine Meinung frei äußern, auch wenn sie systemkritisch war. Besonders gegen den Studentenpfarrer Johannes Hamel wurde 1950 ermittelt. Am 12. Februar 1953 wurde Hamel wegen Boykotthetze festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt Roter Ochse überstellt. Aufgrund heftiger Proteste gegen die Inhaftierung ordnete Erich Mielke am 9. Juli 1953 die Freilassung an.
Weitere Themen der Ausstellung sind:
Weitere Themen der Ausstellung
Weitere Themen der Ausstellung sind: Die Entnazifizierung des Personals des „Roten Ochsen“ und deren Todesurteil durch das Militärtribunal; die Verfolgung von Jugendlichen; Zwangsarbeit in der Sowjetunion und Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone.
So vollgestopft mit Wissen begebe mich wieder nach unten und spreche noch mit der Mitarbeiterin der Gedenkstätte am Empfang. Ich erwähne, dass ich für das Stadtradio Göttingen auch schon Gertrud Pötzinger interviewt hätte. Sie ist auf mehreren Tafeln zu sehen. Wir sprechen auch über die Anwendung von KI für zukünftige Zeitzeugenprojekte.
Pause und weiteres Erkunden der Stadt
Nun habe ich Hunger und setze mich in der Nähe der JVA auf eine Bank und mache Pause. Ein kleines blondes und aufgewecktes Mädchen läuft vorbei, sagt „Hallo“ und setzt sich auf die zweite Bank neben mir. Ihre telefonierende Mutter folgt ihr und fordert sie auf weiter zu gehen. Sie setzen sich dann ca. 10 Meter weiter auf eine Bank.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite laufen die die ältere Frau und die Jugendliche. Sie waren nicht in der Gedenkstätte. Vermutlich haben sie eine/n Inhaftierte/n besucht.
Nach meiner Pause komme ich wieder an dem Botanischen Garten vorbei. Da ich noch viel Zeit habe, will ich hineingehen. Da ich dafür € 2,- zahlen soll, verzichte ich darauf. In Göttingen haben wir in beiden Botanische Gärten freien Eintritt.
Auf dem Rückweg gehe ich bei der Moritzburg Richtung Domplatz und biege vorher ab. Ich gelange zur Rückseite des Domes und der Neuen Residenz. Der Mühlgraben trennt mich von ihnen. Auf der rechten Seite ist eine große Baustelle.
Auf dem Marktplatz setze ich mich auf eine Bank. Der Platz ist riesig und gefällt mir nicht besonders. Außer der Kirche und dem Roten Turm sieht alles so grau und betonmäßig aus. Er hat wenig Flair. Ein Hinweisschild verweist auf den Hauptbahnhof. Der Weg führt zum alten Markplatz. Es wäre es schön, wenn hier die alten Gebäude etwas mehr Farbe hätten.
Ein Mann erklärt mir den Weg zum Bahnhof und ich komme am Leipziger Turm vorbei. Auf einem großen freien Platz mit Bänken neben den S-Bahnabfahrtstellen setze ich mich und genieße lesend die Sonne, bewacht von einem Polizeieinsatzwagen. Zum Hauptbahnhof muss ich noch die Unterführung und den Platz davor passieren. Die ehemaligen Geschäfte scheinen leer zustehen.
Nun habe ich noch genug Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Er soll um 17:09 h abfahren. Er hat 5 Minuten Verspätung. Das macht nichts, denn der Anschlusszug hat ebenfalls 5 Minuten Verspätung. Auch sonst gibt es keine Verzögerung bei der Fahrt.
Als ich dann mein Auto aus dem Parkhaus auslösen will, akzeptiert der Automat zwar die Bahncard, aber er reduziert den Preis nicht. Er hat aber 15,- € geschluckt. Da ich wohl eine falsche Taste drücke, rufe ich die Info an. Die Dame storniert den Beleg, aber das Geld bekomme ich nicht zurück. Wir einigen uns darauf, dass ich auf die 1,50 € verzichte und ich dann bei der Schranke noch einmal die Infos anrufe, damit ich rausfahren kann. Als ich dann an der Schranke stehe und den Infoknopf drücke, öffnet sich die Schranke sofort. Gegen 20:00 h bin ich zuhause.
Was stand da so schön auf der Hauswand in Halle? „Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben.“
© Ingeborg Lüdtke
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