KZ Bergen-Belsen Teil 2

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„Von diesem Schreckenslager wird sicherlich jeder auf seine Art erzählen. Dabei wird es auch Wahrheiten geben. Veränderliche, unterschiedliche, relative Wahrheiten. Alles hängt vom subjektiven Standpunkt ab, von der Lage, in der man seine Beobachtungen anstellt, und vom individuellen Blickwinkel, mit dem man dieses ganze Schauspiel betrachtet …“ (11.10.44 Hanna Levy-Hass – Sprecherin A. Kütemeyer)

(Musikakzent)

Anmoderation:

Im ersten Teil der Sendung ging es um die letzten Tage des KZ Bergen und die Befreiung durch die britische Armee.

Heute geht es um Fragen wie:

Hatte die SS bei der Planung des Lagers Bergen-Belsen schon die Massenvernichtung im Sinn, den Tod durch organisierte Vernachlässigung?

Was hat es mit dem Austauschlager auf sich?

Kam es tatsächlich zu einem Austausch von Häftlingen ins Ausland?

Gibt es auch Aufzeichnungen, die im KZ Bergen-Belsen geschrieben wurden?

Bleiben Sie dran und hören Sie einfach rein:

(Musikakzent)

KZ Gedenkstätte Bergen Belsen

Heute reise ich ein weiteres Mal zur KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen. Bergen-Belsen liegt ca. 60 Kilometer von Hannover entfernt und ca. 25 Kilometer nördlich von Celle.

Ich erhoffe mir, dass ich ein wenig mehr darüber erfahren kann, was dort geschehen ist. Mir ist bewusst, dass ich nur einen Bruchteil von den tatsächlichen Zuständen im KZ Bergen-Belsen erfahren kann.

Zwischen meinem ersten Besuch in der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen und heute sind einige Monate vergangen. Diese Monate habe ich genutzt, um Fachbücher, Bücher und Tagebücher von ehemaligen Häftlingen zu lesen.  Auch habe ich über das Internet einige Interviews mit ehemaligen Häftlingen angehört.

Heute möchte ich mir die Ausstellung noch etwas genauer ansehen. Der Gedenkstättenleiter  Dr. Jens-Christian Wagner und sein Stellvertreter Dr. Thomas Rahe haben mir bereits einige Fragen beantwortet.

Als erstes gehe ich im unteren Bereich der Ausstellung bis zur großen Fensterfront.

Rechts an der Wand  hängen sechs topographische Karten. Die Karten zeigen, wie das Lager so nach und nach ausgeweitet wurde. Verschiedene Farben kennzeichnen die unterschiedlichen Lagerbereiche.

Von Jens-Christian Wagner weiß ich, dass es zuerst ein Kriegsgefangenenlager gab:

„… seit 1940 war es schon ein Kriegsgefangenenlager, das von der Wehrmacht verwaltet wurde, in dem insbesondere im Winter 1941/1942 mindestens so entsetzliche Zustände herrschten wie im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen. In diesem Winter 1941/1942 sind hier fast 20.000 sowjetische Kriegsgefangene auf elende Art und Weise auf Grund (von) Hunger, Krankheiten, mangelnder medizinischer Versorgung und vor allen Dingen auch auf Grund mangelnder Lagerhygiene ums Leben gekommen. Die Gefangenen waren in Erdhütten untergebracht – es gab gar keine Baracken. … Sowjetische Kriegsgefangene … stellten … nach den Juden die größte Opfergruppe im Nationalsozialismus. (O-Ton Wagner)

Michail Levin kam aus Moskau und war mit 19 Jahren als sowjetischer Kriegsgefangener in das Stalag Bergen-Belsen XI C (311) gekommen. Er hat diesen harten Winter 1941/42 erlebt:

„Hunderte wurden täglich mit dem Karren weggebracht. Morgens, nach dem Wecken, bevor man zum Appell antrat, lagen schon einige Leichen auf den Pritschen. Man lud sie auf einen Karren und brachte sie zum Friedhof. (…) Am Anfang hatte man einfach Angst diese Leichen auf den Karren zu laden. Wie alt war ich 1941? Ich war 19 und hatte so etwas noch nie gesehen. Man faßte zu zweit oder zu dritt an. Wir waren nicht besonders stark. Wir fassten sie an Händen und Füßen und warfen sie auf diesen Karren Sie waren praktisch nackt. Einige hatten Nummern, andere nicht. Sie wurden dort hingefahren und dann nicht hineingelegt, nein, einfach hineingeworfen.“ (Genehmigung Gedenkstätte Bergen-Belsen – Sprecher Peter Bieringer)

(Musikakzent)

Später bestanden einige Teile der Lager in Bergen-Belsen parallel:

„Als im Frühjahr 1943 das sogenannte Austauschlager für die jüdischen Geiseln eingerichtet wurde, …, gab es das Kriegsgefangenenlager noch, und das Austauschlager und das Kriegsgefangenenlager haben zeitweise parallel am selben Ort existiert. Ein Jahr später (im April 1944) wurde das Männerlager eingerichtet, …. Zu diesem Zeitpunkt gab es das Austauschlager natürlich nach wie vor, das gab es bis zum Ende des Krieges. Auch das Kriegsgefangenenlager existierte zu dem Zeitpunkt noch. Dann kam im Sommer 1944 das Frauenlager dazu. …. Im Sommer 1944 gab es hier 4 Lager an einem Ort. Das änderte sich im Dezember/Januar 1944/1945, als das Kriegsgefangenenlager endgültig von Bergen-Belsen weggezogen wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es dann „nur“ noch 3 Lager hier am Ort, nämlich das Austauschlager für die jüdischen Geiseln, das Männerlager für die nicht mehr arbeitsfähigen Männer und das Frauenlager für Frauen, die in anderen Lagern Zwangsarbeit leisten sollten.“ (O-Ton Wagner)

Das sogenannte Austauschlager wird auch Geisellager genannt. In das Austauschlager kamen ausschließlich jüdische Häftlinge, die gegen im Ausland internierte Deutsche ausgetauscht oder gegen materielle Gegenleistungen freigelassen werden sollten.

Dr. Thomas Rahe erklärt mir die damit verbundenen Konsequenzen für das Austauschlager:

„Diese Grundfunktion, die man Bergen-Belsen damit zugeschrieben hat, die hatte für das Lager zunächst 3 wesentliche Konsequenzen. Das erste war, dass es von Beginn an, und zwar als einziges der KZ-Hauptlager in Nazideutschland, ein Lager war, das zunächst nur für jüdische Häftlinge eingerichtet worden ist, in dem es über mehrere Monate tatsächlich auch nur jüdische Häftlinge gab, abgesehen von einem Baukommando, das temporär hier eingesetzt worden ist. Das zweite war: Die Lebensbedingungen waren zunächst besser als in den anderen Konzentrationslagern. Das hatte nichts mit humanitären Überlegungen zu tun, sondern folgte einfach der Logik: Wenn man Häftlinge austauschen will oder gegen materielle Gegenleistungen freilassen will, müssen die zumindest noch leben, sonst kann man sie für den Zweck nicht verwenden, und man rechnet damit, dass im Lauf der nächsten Monate eben solche Austauschaktionen zustande kommen, d. h. die Häftlinge sollten nicht schon durch ihren körperlichen Zustand dokumentieren, wie es in einem deutschen Lager wirklich zugeht. Zu diesen besseren Lebensbedingungen gehörte auch, dass die Häftlinge Gepäck mitbringen durften ins Lager und dieses Gepäck im Lager auch benutzen durften. D. h., dadurch waren wichtige materielle Voraussetzungen gegeben für ein heimliches kulturelles religiöses Leben im Lager. Und die dritte Konsequenz war, dass von Beginn an Bergen-Belsen ein Familienlager war. D. h., anders als in anderen Konzentrationslagern, wo es ja in der Regel Einzelpersonen waren, gerade wenn es um die politischen Gefangenen geht, war es in Bergen-Belsen so, dass von Beginn an in diesem Austauschlager die Häftlinge überwiegend als Familien hier nach Bergen-Belsen gekommen sind, d. h. von Beginn an gibt es eine große Zahl von Kindern im Lager hier,…“ (O-Ton Rahe)

Celino Bleiweiss war eines der Kinder, das mit einer Familie nach Bergen-Belsen gekommen ist. Hinter dieser dreiköpfigen Familie steckt aber ein im Lager gut behütetes Geheimnis.

„Ich war in einem Sonderlager mit neuen Eltern. Ich komme aus Przemyśl. Przemyśl ist eine Stadt im Osten Polens, jetzt an der ukrainischen Grenze. Und als dann die Deutschen die Stadt besetzten und später dann ein Ghetto einrichteten. Es lebt dann in diesem Ghetto ein Mann namens Bleiweiss. Er hatte sicher gefälschte amerikanische Papiere für sich, seine Frau und sein Tochter Celina. Frau und Tochter wurden bei einer Geiselerschießung umgebracht. … Und später 1943 kam eine Verordnung der Deutschen, dass alle, die besondere Papiere, südamerikanische, Palästina, englische, römisches Mandatsgebiet, südafrikanische, amerikanische, ganze Familien. Sie sollen sich melden, die ganze Familie. Sie würden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht. Und dieser Mann, Richard,  hatte noch die Papiere von Frau und Tochter auch noch. Und zu seinem Bekanntenkreis gehörte meine Familie. Und dann ist meine, eine meiner Cousinen als Ehefrau mitgegangen und meine Eltern haben mich mitgegeben. Und mit einem kleinen Häkchen, der kleinen Fälschung in den Papieren (hustet) wurde aus Celina Celino. So bekam ich den Namen. (Ich) hab(e) schnell lernen müssen Vater und Mutter zu den  beiden zu sagen.“ (O-Ton Bleiweiss)

Die gefälschten Papiere retten ihm und seinen Ersatzeltern das Leben. Kurz vor Ende des Krieges wird die Familie noch auf einen Transport geschickt und in der Nähe von Tröbitz von der russischen Armee befreit.

Allerdings hat diese Fälschung auch heute noch eine Auswirkung auf das Leben von Celino Bleiweiss.

Er kennt inzwischen seinen ursprünglichen Namen, er kann aber seine Identität nicht beweisen. Auch hat er vor einiger Zeit erst sein echtes Geburtsdatum erfahren:

„Und ich bin bei dem Namen geblieben. … Erst im vergangenen Jahr [Anm. ca. 2014] im Archiv der Stadt, in der ich geboren bin, habe ich den richtigen Geburtstag erfahren. Ich bin 2 Jahre älter. Aber ich ändere natürlich an nichts.“ (O-Ton-Bleiweiss)

Seine leiblichen polnisch-jüdischen Eltern wurden vermutlich  im September 1939 beim Massaker ermordet.

Das vollständige Gespräch kann man sich anhören auf MEMORO – Die Bank der Erinnerungen e.V. unter dem Link www.memoro.org/de-de/.

(Musikakzent)

Nicht alle Staatsangehörigkeitsnachweise oder Einreisezertifikate der Häftlinge wurden von der SS anerkannt. Für diese Häftlinge war Bergen-Belsen nur eine Zwischenstation auf dem Weg in ein Vernichtungslager.  Etwa 1800 polnische Juden wurden von Bergen-Belsen nach Auschwitz-Birkenau transportiert und dort direkt nach der Ankunft ermordet.

Den Häftlingen täuschte man vor, dass sie austauscht werden sollten:

„.. um einfach keine Unruhe im Lager entstehen zu lassen, wurde erklärt, man bringe die bei diesem ersten Transport, den es aus den polnischen Sonderlager von Bergen-Belsen nach Auschwitz gab, … in ein … Lager „Bergau“ bei Dresden, das es überhaupt nicht gab. Es gibt auch Tagebücher aus dieser Häftlingsgruppe, und denen kann man eben entnehmen, dass sie diejenigen beglückwünscht haben, die jetzt mit diesem Transport rauskamen, … und bedauerten, dass sie jetzt nicht auf dieser Liste standen und herauskommen aus Bergen-Belsen, und die haben eben tatsächlich erst nach Kriegsende erfahren, dass diejenigen, die mit diesen Transporten rausgebracht wurden, tatsächlich nach Auschwitz deportiert worden sind und dort dann ermordet worden sind.

Wir haben in einem Fall auch noch einen anderen Beleg dafür. Es gab nämlich bei einem dieser Transporte, die dann in Auschwitz-Birkenau an der Rampe angekommen sind, einen Zwischenfall, der in den Akten des Lagerkomplexes in Auschwitz sich niedergeschlagen hat. Eine Frau aus diesem Transport ahnte offensichtlich, was da nun passieren würde, und hat sich auf einen der SS-Leute gestürzt, ihm das Gewehr entrissen, ihn dann erschossen. Dann gibt es sozusagen  … einen Kampf zwischen den jüdischen Häftlingen und dem vor Ort vorhandenen SS-Personal. Natürlich haben die jüdischen Häftlinge aus Bergen-Belsen keine reelle Chance, d. h. es wird dann relativ schnell dieser Miniaufstand sozusagen niedergeschlagen, und sie kommen alle in die Gaskammern, und es ist ausdrücklich nochmal in den Akten beschrieben, was da passiert ist, weil es eben so außergewöhnlich war, dass aus den Häftlingen bei der Selektion oder bei der Ankunft dieses Transportes, der für die Vernichtung vorgesehen war, es einen Angriff auf das SS-Personal gegeben hat. (O-Ton Rahe)

(Musikakzent)

Wurden tatsächlich auch Häftlinge ausgetauscht?

(Musik)

Ursprünglich sollten 30.000 Häftlinge ausgetauscht werden. Aber letztendlich wurden viel weniger ausgetauscht. Warum war das so? Thomas Rahe weiß die Antwort:

„Es gab verschiedene Gründe dafür. Man tendiert dazu zu sagen, es wäre doch eigentlich viel mehr möglich gewesen, über Bergen-Belsen viel mehr Juden zu retten.   …. Das ist auch wahrscheinlich richtig diese These, aber auf der anderen Seite muss man auch die Faktoren in den Blick nehmen, die eine Rolle gespielt haben, und da darf man es sich auch in der historischen Bewertung nicht zu einfach machen. Man kann nicht einfach sagen: Ja, es gab also dann in den staatlichen Einrichtungen und beim Militär sowohl bei den Briten als bei den Amerikanern durchaus auch Antisemitismus. Es mag auch eine gewisse Rolle gespielt haben. Aber man muss sich natürlich vorstellen: Mitten im Kriegszustand holt man Zivilinternierte, Zivilpersonen raus aus dem Gebiet des Gegners und man weiß gar nicht genau: Was sind das für Leute? Sind das vielleicht auch Spione, die Überlegung gab es durchaus z. B. bei den Amerikanern. Das kann auch ein Einfallstor sein für Spione oder Leute, die Attentate verüben wollen, …. Und hinzu [kommt]  z. B.: es wurden dann Personenlisten auf beiden Seiten erstellt, die für den Austausch vorgesehen waren, und manchmal waren z. B. die Personen, die die Briten auf den Austauschlisten hatten, überhaupt nicht mehr am Leben, weil die längst aus Ghettos z. B. in Vernichtungslager deportiert worden waren und dort umgebracht worden waren. Also da gibt es verschiedene Gründe, warum tatsächlich diese Zahl der real Ausgetauschten deutlich geringer war, als zunächst geplant gewesen ist“. (O-Ton Rahe)

Tatsächlich gibt es mehrere Austauschaktionen:

„Die erste findet statt genau Mitte 1944, der sog. Palästina-Austausch. Da kommen tatsächlich 222 Häftlinge aus Bergen-Belsen heraus: Mit einem Zugtransport werden die bis Palästina gebracht bis Haifa, und im Gegenzug werden vor allen Dingen sog. Templer, d. h. also religiös motivierte deutsche Siedler, die im 19. Jahrhundert meistens schon nach Palästina gekommen waren, dann ebenfalls mit dem Zug über den Balkan dann ins Deutsche Reich gebracht. Und auch in der Folgezeit gibt es immer wieder …  in größerem und kleinerem Umfang, solche Austausch- bzw. Freilassungsaktionen,  …“. (O-Ton Rahe)

Die größte Freilassungsaktion gab es im Zusammenhang mit ungarischen Juden. Ladislaus Löb (LL)war einer der Freigelassenen. Er war damals 11 Jahre alt.

Ich erinnere mich an sein  Interview mit einem Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Mit ihm sprach er über die Hintergründe der Freilassung:

Sie haben ein Buch verfasst „Geschäfte mit dem Teufel“. Worin ging es in dem Buch? Was waren das für Geschäfte?

LL: Das geht um die Rettung von mindestens 1700 … Juden im Holocaust durch einen anderen …  Juden mit Namen Rezső Kasztner, der mit der SS, also mit Eichmann ein Geschäft machte und diese … 1700 Juden freikaufte mit der Absicht noch weitere Juden freizukaufen, was ihm dann nicht mehr gelungen ist. Einerseits ist das eine sehr triumphale Geschichte, dass man so viele Juden retten kann aus einem deutschen Konzentrationslager noch mitten im Krieg. Andererseits ist es tragisch, weil so viele umgekommen sind und weil Kasztner selbst später  in Israel umgebracht worden ist. Weil er angeblich – was ich nicht glaube – mit Eichmann kollaboriert hätte.

Sie verdanken selbst Ihr Leben Rezső Kasztner. Was sind genau die Hintergründe dieses Handels?

LL: Die Hintergründe sind eine Idee, wahrscheinlich – man weiß ja, soviel ist ja vernichtet worden im Krieg, Dokumente – aber wahrscheinlich war es ein Versuch von Himmler, die Alliierten im letzten Kriegsjahr zu spalten, indem er ihnen eine Million jüdischer Leben angeboten hat für 10 000 Lastwagen und andere kriegswichtige Güter, die an der Ostfront eingesetzt worden wären. Was natürlich sofort die Russen gegen die Briten, gegen die Amerikaner gewendet hätten. Und das war wahrscheinlich die Idee von Himmler. Andererseits, da war eine kleine jüdische Gruppe von, sagen wir, von selbst ernannten Rettern und Helfern, die es auf sich genommen haben, die ungarischen Juden zu retten, was ihnen leider nicht gelungen ist. Aber die haben die Idee gehabt, es war alles auf Bluff aufgebaut. Die haben die Idee gehabt: Wenn sie die westlichen Alliierten überreden könnten diesen Handel, oder diesen angeblichen Handel mit Himmler einzugehen, dann, oder so tun, als ob sie dran interessiert wären. Dann hätte Kasznter und seine kleine Gruppe, die ich genannt habe, zurückgehen können zu den Nazis und sagen können: „Hört zu, die Briten und Amerikaner nehmen Euch ernst, aber jetzt müsst ihr mal wieder guten Willen zeigen, in dem ihr im letzten Moment noch, die noch lebenden Juden am Leben erhaltet. Und das, auf beiden Seiten wäre das Bluff gewesen und es ist leider nichts draus geworden.  Immerhin geworden ist daraus die Rettung von 1700 und wahrscheinlich 15.000 anderen, die statt Auschwitz in ein Arbeitslager gekommen sind.

Zeigt sich da, dass doch mehr Handlungsspielraum auch möglich war, als man gemeinhin annimmt?

LL: Sicher im letzten Kriegsjahr. Ob das früher so gewesen wäre, weiß ich nicht. Aber im, das war 1944. Da haben die Deutschen schon gewusst, dass sie den Krieg verloren haben. Und Himmler hat eben versucht, da sich einen Ausweg zu schaffen.

Also Kasztner ist ja eigentlich eine Heldenfigur, weil er ja Menschenleben gerettet hat, weil es auch viel Mut erfordert hat, mit Eichmann persönlich zu verhandeln und seinen Komplizen. Warum ist er in Israel eine so ambivalente Figur und warum ist er sogar einem Attentat zum Opfer gefallen?

LL: Dazu muss man etwas von der israelischen Politik wissen, und zwar zwei Sachen mindestens. Die Israelis [1] mussten natürlich hilflos und untätig zuschauen, wie die europäischen Juden abgeschlachtet worden sind … (undeutlich: Israelis fast nach Palästina unter den Briten). Und dazu, darauf reagiert man natürlich ganz schön zwiespältig. Einerseits hat man natürlich Mitleid mit den Brüdern und Schwestern, die da abgeschlachtet werden. Andererseits hat man Ungeduld mit denen. Man meinte: „Wehrt euch doch, greift zu Waffen. Macht etwas.“ Was sie natürlich nicht machen konnten. Aber trotzdem, die Juden in Israel waren damals sehr militant, ja auch heute. … (undeutlich) waren aggressiv. Und das war die eine Seite der Sache. Sie haben es also den europäischen, den Juden übel genommen, dass sie sich abschlachten ließen. Sie haben die europäischen Juden verachtet, dafür, dass sie sich durch Verhandlungen, durch Ducken, durch Einschmeicheln usw. retten wollten. Und manchmal konnten und manchmal nicht konnten. Und die andere Seite war, dass in Israel fast Bürgerkrieg herrschte am Anfang, in der Zeit der Anfänge des Staates Israel. Da war die Mitte, die mit den Engländern verhandeln und sie auf diese Art loswerden wollte und die war dann jahrzehntelang die Regierung in Israel. Auf der anderen Seite waren die Revisionisten, die waren extrem rechts. Und die wollten die Engländer mit Gewalt vertreiben. Die hatten terroristische Gruppen dabei gehabt. Und diese beiden Gruppen haben fast einen Bürgerkrieg veranstaltet in Israel. Und beide Gruppen, Kasztner ist so ins Kreuzfeuer geraten, zwischen diesen beiden Gruppen. Und er ist angeklagt worden eben mit Kasztner kollaboriert zu haben, sorry mit Eichmann kollaboriert zu haben.

Herr Löb vielen Dank für das Gespräch. (O-Ton/CC-Lizenz)

In der Bibliothek der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen finde ich sein Buch Geschäfte mit dem Teufel“ und lese über das Leben im :

„Der Kaffee, der früh am Morgen zum Frühstück und am Spätnachmittag zum Abendessen verteilt wurde, bestand aus irgendeiner Ersatzsubstanz. Ich höre noch immer einen unsere Mitgefangenen, …, zweimal am Tag brüllen: „Zum Kaffee antrettten!“ Wir traten zwar an, aber was wir bekamen, hatte mit Kaffee höchstens die Farbe gemeinsam.

Die tägliche Suppe brachte man aus der Lagerküche in Behältern von 25 oder 50 Litern. Sie enthielt Steckrüben, Mangold und andere Wurzelgemüse, die wir bisher als Viehfutter gesehen hatten. … An Glückstagen fanden wir Kartoffelschalen und sogar Kartoffeln im grauen Brei. Wenn wir noch mehr Glück hatten, waren auch ein paar Fleischstücke dabei.

An den ersten Tagen fanden wir diese Suppe ganz ungenießbar. Wir ließen sie in den Behältern oder versuchten sie an unsere Nachbarn im nächsten Lagerteil weiterzugeben. Aber mit der Zeit waren wir froh darum.

Wie alle anderen hatte auch ich dauernd Hunger, aber einige Gemüsesorten – hauptsächlich eine Art Möhre und Bete – brachte ich einfach nicht herunter. Mein Vater gab mir dafür einen großen Teil seiner übrigens Rationen.

Die Feinheiten blieben mir damals verborgen, aber ich sah mehr als einmal Schlägereien wegen des Essens ausbrechen und ich erinnere mich heute noch an die Mischung von Faszination und Schock, die ich empfand, als ich beim ersten Mal nach einem solchen Krach auf dem Gesicht eines angesehenen Juristen Blut sah.

Eines Tages wurden fünfzehn Fässer abgestandene Muscheln vor unseren Füßen ausgeschüttet. Die Leute … griffen mit beiden Händen in den schlüpfrigen schwarzen Haufen und stopften sich ihre Taschen voll. Dann zogen sie sich kurz aus dem Kampf zurück, um die Mollusken aus ihrer Schale zu saugen, bevor sie sich wieder in das Getümmel stürzten, um mehr zu ergattern. … Ich wäre gern mit von der Partie gewesen. Leider hatte es mir mein Vater aus Angst vor einer Magenvergiftung verboten.

Ich lese weiter. Es gab auch kulturelle Aktivitäten und Schulunterricht:

„Ein herausragendes Beispiel … war eine Folge Sketche, … Das war „Radio Ojweh“, eine Parodie des raffinierten politisch-literarischen mitteleuropäischen Kabaretts als Rundfunksendung aufgezogen. Das Programm bestand aus Pseudonachrichten, satirischen Szenen, komischen Liedern, die sich über die bunteren Mitglieder, die deutschen Soldaten, das Essen, die Latrinen, das Wetter, die Streitigkeiten der politischen Parteien und viele aktuelle Themen lustig machten.

Wie schon gesagt, befanden sich ungefähr 320 Kindern und 30 Lehrer in der Gruppe und bald nach unserer Ankunft wurde zum Leidwesen der Kinder der Beschluss gefasst, Unterricht zu organisieren. … Theoretisch war Schulbesuch von einer oder zwei Stunden am Tag obligatorisch, aber die Schüler kamen unregelmäßig und Lehrmaterial fehlte, sodass der Unterricht weniger wirksam ausfiel, als die Organisatoren gehofft. Bei gutem Wetter fanden die Stunden im Freien statt, wo der Mangel an Papier zum Teil dadurch kompensiert wurde, dass wir mit unseren Fingern oder kleinen Holzstückchen in den Sand und Staub schreiben konnten. Als der Herbst kam, wurden wir in die überfüllten Baracken kommandiert, und die Stunden liefen sich allmählich tot.

Gut besucht waren die Sprachkurse, sowohl für Erwachsene wie Kinder. In Folge der Dominanz der Zionisten war Hebräisch die gefragteste Fremdsprache, aber Englisch, Französisch und sogar Deutschkurse hatten großen Zulauf.

Alle diese kulturellen Aktivitäten konnten uns das Elend des Lagers erleichtern. Sie konnten es nur für Augenblicke, aber diese Augenblicke waren kostbar“. (Sprecher Peter Bieringer)

(Musik)

Die meisten Häftlinge im Austauschlager wurden nicht ausgetauscht. Ich suche in der Bibliothek nach veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen.  Jens-Christian Wagner erzählt mir, dass die überlieferten Tagebücher im Wesentlichen aus dem Austauschlager stammen:

Das hat aber tatsächlich nur im Austauschlager stattgefunden, in dem etwas bessere Bedingungen herrschten, in dem den Häftlingen auch gestattet war, oder es zumindest geduldet wurde, dass sie private Habseligkeiten hatten, deswegen konnte da auch Tagebuch geschrieben werden, während das im Frauen- und im Männerlager nicht der Fall war.“

Ich finde einen Bericht von Sophie Götzel-Leviatan in dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“. Ihr Bericht befindet sich auch in der Gedenkstätte Yad Vashem . Sophie Götzel-Leviatan kam im Juli 1943 von Warschau nach Bergen-Belsen:

„Dann sahen wir uns im Lager um. Neben unserer sind andere Baracken, auch gegenüber von uns und hinter uns. Jede Baracke hat eine Nummer. … Einige Baracken sind von anderen Baracken durch ein hohes eisernes Tor getrennt. Wir erfahren, dass vor dem Tor die Frauen- und hinter dem Tor die Männerbaracken liegen. Um 9 Uhr abends wird das Tor geschlossen. Es darf sich dann bei Strafe kein Mann auf der Frauenseite, keine Frau auf der Männerseite befinden. Das ganze Lager ist von einem hohen engmaschigen Drahtgitter umgeben. Im Lager ist ein großer freier Platz. Längs des Drahtgitters, im rechten Winkel zu den Baracken, sind barackenähnliche Bauten ohne Fenster. Es sind die Latrinen des Lagers. … Hinter dem das Lager umgebenden Stacheldraht sind in je 150 Meter Entfernung voneinander Wohntürme … In jedem der Wohntürme sitzt ein Soldat. Er hat große Reflektoren, mit denen er abends das Lager ableuchtet. Vor dem Lager sind rechts und links Schilder, auf die Totenköpfe gemalt sind. Darunter steht die Aufschrift:  ‚Achtung! Neutrale Zone. Es wird ohne Anruf scharf geschossen‘.

Es sind zweistöckige Holzbetten. Auf aneinandergelegte Holzbretter wird ein Strohsack gelegt. Darauf kommen die Militärdecken. Wer ein kleines Kopfkissen hat, liegt darauf. Wer eine Decke oder ein Leintuch besitzt, ist ein König …

Der Tagesablauf …:

Wir bekommen gegen 6 Uhr Morgenkaffee, stehen gegen 8 Uhr auf, waschen uns, machen Betten. Um 12 Uhr ist Mittag, … Nachmittags ist Brotverteilung. Es gibt täglich 300 Gramm pro Kopf. Auch etwas Margarine, später Butter, Marmelade oder etwas Weichkäse. Sontags gibt es ein Stück Blutwurst. … Die Kinder bis zu 6 Jahren haben es besonders gut. Sie bekommen einen Liter Grieß oder Nudeln auf Milch und mehr Butter.

… Wir haben jeden Tag Appell. Wir müssen um 3 Uhr nachmittags alle vor unseren Baracken stehen.

… wir entdecken die Waschgelegenheit. Es sind im Freien vor den Baracken lange Waschbecken aufgerichtet, mit vielen Wasserhähnen.

… Wir sind auch schon baden gegangen. … Wir gehen vorbei an Baracken, über ein Bahngleis. … Vor  dem Bad mussten wir lange stehen. Dann hat ein SS uns die Türe geöffnet und uns hereingeführt. In dem großen Vorraum stehen Bänke und Bretter mit Nägeln. Wir müssen uns schnell ausziehen. Auf einen Pfiff fängt das Wasser an zu laufen. Erst kalt, dann wärmer, dann heiß. Nach 7 Minuten wird auf einen Pfiff das Wasser abgestellt. Wir müssen bis dahin uns und unsere Haare gewaschen haben.“ (Sprecherin A. Kütemeyer)

Im Sommer 1944 erfolgt ein Umzug in dunkle Steinbauten:

Das Essen hat sich … bedeutend verschlechtert. Wir bekommen jetzt mittags eine Suppe aus Kohl oder Spinat, die aber ohne Fett ist, als Brotaufschnitt Margarine statt Butter, anstelle der guten Marmelade säuerliches Kompott. Abendsuppe bekommen wir einen Monat lang nicht. Wir fühlen uns alle schlecht, sind alle dauernd hungrig und gereizt. … Wenn wir die Brotration für einige Tage bekommen, machen wir uns mit dem Messer Zeichen an das Brot, wie viel wir pro Tag essen dürfen. Wer sich nicht beherrschen kann, isst in den ersten Tagen seine ganze Ration auf und muss die letzten Tage ohne Brot auskommen. Da legt man sich einfach ins Bett. Im Liegen ist der Hunger besser zu ertragen.“ (Sprecherin A. Kütemeyer)

(Musikakzent)

Nun halte ich das Buch von Hanna Lévy-Hass „Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen  1944-1945“ aus dem Beck Verlag in den Händen. Hanna Lévy-Hass wurde in Sarajewo im ehemaligen Jugoslawien geboren.  Sie führte ihr Tagebuch von August 1944 – April 1945. Durch diese Aufzeichnung erhalte ich einen kleinen Einblick in das Lagerleben.

„22.8.44

Der starke Platzmangel und die Schwierigkeiten, die Sauberkeit aufrechtzuerhalten, all das wird einem zu viel. Die Regentage verwandeln den ganzen Boden in Schlamm, was den allgegenwärtigen Schmutz und das Ungeziefer noch mehrt. Und das alles ist begleitet von unaufhörlichen Schikanen, die vom gemeinsamen Feind, dem Nazi, systematisch gefördert werden.

28.8.44

Ich habe die Aufgabe übernommen, mich um die Kinder zu kümmern. In unserer Baracke sind 110 Kinder verschiedenen Alters, von dreijährigen Kleinkindern bis zu vierzehn- und fünfzehnjährigen Jungen und Mädchen. Ohne irgendein Buch zu arbeiten, ist nicht leicht. Ich bin gezwungen, mit der Hand kleine Fetzen Papier …mit verschiedenen Themen zu beschreiben, für die ganz Kleinen, die kaum lesen und schreiben können, und für die am weitesten Fortgeschrittenen. Papier und Bleistift verschaffen sich die Kinder, wie und wo sie können…

29.8.44

Eine Art allgemeines Misstrauen herrscht in diesem Lager und auch in unserer Baracke. Vollkommene Interesselosigkeit für das Schicksal der anderen, Mangel an Solidarität und Herzlichkeit.

30.8.44

Draußen bei der Arbeit, werden Männer bestialisch gequält. Die deutschen Bestien halten an ihrer bevorzugten Methode fest: furchtbare Schläge und große, hysterische Beschimpfungen. Sie zwingen die Arbeiter in die erniedrigendsten Situationen, veranlassen sie auf Knien zu rutschen und im Laufschritt Wagen zu ziehen. Dabei werden sie furchtbar gehetzt wie Diebe.

Dieser regelmäßige Appell dauert täglich wenigstens zwei bis drei Stunden, und sehr oft … wird er unter irgendeinem Vorwand oder wegen irgendeines „Zufalls“ auf fünf bis sechs Stunden oder sogar den ganzen Tag ausgedehnt, egal, was für Wetter herrscht.

25.9.44

Eine unbekannte Epidemie erfasst das Lager, insbesondere die Frauen und Kinder. Sie äußert sich durch zwei bis drei Wochen andauerndes hohes Fieber, Ohnmachten, absolute Erschöpfung und totale Appetitlosigkeit. … Und dann die Abszesse und die offenen Wunden, die von Ungeziefer oder Unterernährung herrühren; Geschwüre, die ständig nässen, Furunkeln … anormale Schwellungen (Ödeme), Krämpfe, alle Arten von Infektionen … Medikamente sind selten oder fehlen überhaupt… z u all dem sind die Wasserleitungen drei Viertel der Zeit ohne Wasser, ohne triftigen Grund.

(Musikakzent)

Ich wechsele noch einmal zurück zu dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“. Hier finde ich einen Tagebucheintrag vom 9. Oktober 1944 von Lilly Zielenziger. Sie ist in Berlin geboren. Sie war zur gleichen Zeit wie Hanna Lévy-Hass im Aufenthaltslager:

„9. Oktober 1944

… Da oft abends jetzt schon sehr früh das Licht wegen Luftalarm ausgedreht wird, ziehe ich mich schon um 7 Uhr gleich nach dem Essen aus, um bequemer ins Bett zu kommen.

So auch gestern, nachdem ich mit Pfifferlings (Ehepaar Pfifferling) gegessen hatte. Wir hatten voller Heroismus drei Kartoffeln aufgehoben, um sie abends zu braten, und mit ihrem Esbit und meiner Butter war es ein Festessen, danach noch Fischpastete, Harzer Käse… und als Dessert eine Scheibe Weißbrot mit Jam.

So unterhielt ich mich gerade im Morgenrock noch nach dem Essen mit einer Bettnachbarin über Musik, als deren Mann uns aufforderte, in die Griechenbaracke 21 zu einem Konzert zu kommen, was wir sofort gern taten.

Und es war ein Erlebnis. …

Eine ungarische Geigerin spielte Sarasate und später Wiener Lieder, eine Holländerin sang Hallelujah und Bohème, ein Sänger ebenfalls Bohème.

Dies alles in einer schmutzigen Baracke mit der Elite des Lagers, die einst bei Mengelberg oder Furtwängler Zuhörer in dem entsprechenden Dress war. Verhungerte, geschlagene Vertriebene, die dankbar diese Stunde zu genießen imstande sind, und andererseits Menschen, die auf ihre Deportation ihre Geige mitnehmen.

Interessanterweise schreibt Hanna Lévy-Hass einen Tag später:

11.10.44

„Von diesem Schreckenslager wird sicherlich jeder auf seine Art erzählen. Dabei wird es auch ‚Wahrheiten‘ geben. Veränderliche, unterschiedliche, relative Wahrheiten. Alles hängt vom subjektiven Standpunkt ab, von der Lage, in der man seine Beobachtungen anstellt, und vom individuellen Blickwinkel, mit dem man dieses ganze Schauspiel betrachtet …“

Wenn ich beide Tagebucheintragungen vergleiche, empfinde ich das auch so. Es kommt darauf an, in welcher Baracke oder welchem Lagerteil sich man sich befindet.

Hanna Lévy-Hass schreibt am 11.10.1944 weiter:

„Täglich werden die Baracken einer strengen Kontrolle unterzogen. Es ist ein junges Mädchen von der SS …, die in ihrer tadellos sitzenden Uniform elegant und kokett aussieht, hübsch glänzende Stiefel bis zum Knie. Hochmütig, geräuschvoll dringt sie in Begleitung eines Soldaten und des jüdischen Lagerleiters (des Judenältesten) in die Baracke ein …macht übertriebene, provozierende Gesten, wirft den Körper scharf herum und stößt vor einem schlecht gewaschenen Geschirr oder einem nicht sorgfältig gebauten Bett theatralisch berechnete Schreckensschreie aus. Sie glänzt darin, einem schallende, impulsive, schnelle Ohrfeigen zu verabreichen ohne den Handschuh auszuziehen. Mindestens sieben oder acht Häftlinge in jeder Baracke werden von ihr täglich wegen eines Nichts mit Entzug von Brot und Essen bestraft.

Lilly Zielenziger berichtet am 6. November 1944:

„Das Essen ist viel dünner geworden, da wir Zuwachs von 3000 Frauen im angrenzenden Lager aus Auschwitz erhalten haben.“

Hanna Lévy-Hass beschreibt die hygienischen Zustände und die Auswirkungen, die die vielen neuen Transporte mit sich bringen:

20.11.44

Dieses gemeinsame Waschen übersteigt alles, was die normale Vorstellungskraft fassen kann: Alle stehen nackt in einem Raum, der statt Fenster und Türen nur gähnende Löcher aufweist und wo von allen Seiten der Luftzug durchpeitscht. Man wäscht sich, man reibt sich mit kaltem Wasser ab … inmitten von Schmutz, Exkrementen und Abfällen. Und man gewöhnt sich daran.

Dezember 44

Endlose Transporte strömen unablässig herein. Reihen sonderbarer Kreaturen bewegen sich unaufhörlich zwischen den Blocks und Stacheldrähten dahin, erbärmlich, sie sehen schrecklich aus, nicht wie menschliche Wesen … Wir machen auf sie zweifellos denselben Eindruck. Es ist nicht genug für alle da. Täglich ziehen wir um, und es wird immer enger. Schließlich kam der Befehl, daß zwei Personen in einem Bett schlafen sollen, so daß die dreistöckigen Betten …sechs Personen aufnehmen müssen.

Der Schlamm, der Regen und die Feuchtigkeit machen sich jetzt auch innerhalb der Baracken bemerkbar, denn sie sind schlecht gebaut, stark abgenutzt und meist durchlöchert. … Man schwimmt in einem Meer von Mikroben, Läusen und Flöhen, Schimmel und Gestank.

Januar 45

..die Ruhr nimmt unerhörte Ausmaße an. … Alles ist verpestet, verdreckt, unrein. Auch die Bodenbretter, die Betten, die Waschanlagen, der Hof, die Latrinen (Gemeinschaftsklos) – eine Überschwemmung.

Allgemeine Unterernährung … Niemand ist imstande, normal aufrecht zu gehen. Alle Leute wanken, schleppen die Beine nach. Ganze Familien sterben in wenigen Tagen.

Februar 45

Die Kranken liegen, und sie sterben langsam, das heißt, sie verfaulen bei lebendigem Leibe.

März 45

Wir alle sind von typhusartigem Fieber befallen, und wir bleiben im Bett. Unsere Baracke wurde mit einem Drahtverhau umzäunt. Eine Quarantäne wurde eingerichtet.

Die Leichen …sind noch immer hier bei uns, in unsren Betten. Es ist niemand da, der sie wegbringt, und auch kein Platz, wo man sie hintun könnte, alles ist überfüllt. Auch in den Höfen werden die Leichen übereinander gehäuft, Haufen von Leichen, sie werden mit jedem Tag höher. Das Krematorium ist nicht imstande, alle zu verbrennen.“ (Sprecherin G. Kütemeyer)

(Musik)

Alle diese Berichte stammen aus dem Aufenthaltslager. Bei den vielen Lagerbezeichnungen, die ich heute gehört und gelesen habe, muss ich jetzt erstmal etwas sortieren:

Das Aufenthaltslager war also der Sammelbegriff. Die SS hatte für die verschiedenen Häftlingsgruppen voneinander abgegrenzte Teillager eingerichtet. Es gab das „Sternlager“ mit dem großen Anteil niederländischer Juden, das „Ungarnlager“, das „Sonderlager“ für polnische Juden sowie das „Neutralenlager“ für Häftlinge aus neutralen Staaten.

Und aus diesem Neutralenlager finde ich auch in dem Buch „Konzentrationslager Bergen-Belsen“ einen Bericht. Rudolf Levy war seit Juni 1944 Häftling im „Neutralenlager“. Sein Bericht stammt vom 23. Juli 1945. Mir springen besonders folgende Beschreibungen über das Zusammenleben ins Auge:

„Innerhalb des Lagers hatte der Lagerälteste die oberste Disziplinargewalt.

Im Rahmen des Lagers war die Familie die bestimmende Gemeinschaft. Abgesehen von der nächtlichen Trennung lebte die Familie tagsüber gemeinsam. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam eingenommen. In der Familie war auch am besten ein Ausgleich der verschiedenartigen Bedürfnisse möglich, vor allem zwischen Eltern und Kindern. … So lag die Hauptlast der Familienarbeit auf der Frau. Die Männer konnten – je nach ihrer Eignung für praktische Arbeit – nur Hilfsarbeit leisten: Bereitung der Mahlzeiten, Waschen, Ausbessern der Wäsche, sowie Krankenpflege. Einzelne verschafften sich zusätzliche Nahrungsmittel durch Arbeit. So gab es drei Schuhmacher, eine Elektrotechniker und Mechaniker. Frauen strickten, nähten oder wuschen. Man bezahlte in Zigaretten, Brot, Mittagssuppe oder sonstigen Lebensmitteln.

So bildete sich aus den Bedürfnissen der Lagergemeinschaft ein Markt heraus, der ursprünglich auf der primitivsten Wirtschaft, dem Tauschverkehr, beruhte.

Man tauschte Suppe gegen Brot, Marmelade gegen Butter. Bald jedoch fand sich ein allgemein anerkannter Wertmesser in Gestalt der Zigarette, der sich zugleich gut als Zahlungsmittel eignete.

Eine Mittagssuppe wurde je nach Qualität mit 4-8 Zigaretten, ein Kilogramm Brot mit 40 Zigaretten gehandelt.

Der Geist des Zusammenlebens war bestimmt vom Hunger und von der Hoffnung auf Freiheit. Die Lagerbewohner fürchteten sich in zunehmendem Maße vor dem Verhungern. Und träumten vom künftigen freien Leben.

Die Konzentration ihres Denkens und Wollens auf das Essen steigerte sich in dem Maße, in dem sich die verteilten Rationen vom Existenzminimum entfernten und in dem sich der Gesundheitszustand der einzelnen verschlechterte. Die Familienmitglieder waren damit beschäftigt, in der Reihe zu stehen, um die zugeteilten Lebensmittel in Empfang zu nehmen, zu überlegen und zu besprechen, wie man mit dem Empfangenen so rationell wie möglich verfahren und auf welchem Weg man die Quantität erhöhen konnte. Das Essen bildete in jeder Hinsicht den überwiegenden Gegenstand der allgemeinen Unterhaltungen und Streitigkeiten. …In diesem kleinen sozialen Gebilde der Zwangsgemeinschaft des Lagers enthüllten sich die Beziehungen zwischen Trieb und Charakter in ihrer sozialen Bedeutung. Zahlreiche Menschen, die im normalen Leben durchaus nützliche Mitglieder der Gesellschaft waren, verloren hier mehr und mehr die Willenshemmungen des Charakters und wurden zu durchaus asozialen Elementen. Hierzu sind jene an der Lebensmittelverteilung Beteiligten zu rechnen, die sich und ihrem Clan zum Nachteil der Allgemeinheit Vorteile zukommen ließen …

Die Ritterlichkeit gegenüber dem Alter und der Frau war einer weitverbreiten Rücksichtslosigkeit gewichen …“ (Sprecher Peter Bieringer)

(Musikakzent)

Die vielen Berichte der Häftlinge öffneten mir nur ein winziges Fenster mit Blick auf die katastrophalen Zustände des KZ Bergen-Belsens.

Von insgesamt ca. 120 000 Häftlingen aus fast allen Ländern Europas starben hier mehr als 52 000 Männer, Frauen und Kinder.

Jeder Überlebende hat seine eigenen Erlebnisse. Hanna Levy-Hass hat dies auch erkannt:

„Von diesem Schreckenslager wird sicherlich jeder auf seine Art erzählen. Dabei wird es auch ‚Wahrheiten‘ geben. Veränderliche, unterschiedliche, relative Wahrheiten. Alles hängt vom subjektiven Standpunkt ab, von der Lage, in der man seine Beobachtungen anstellt, und vom individuellen Blickwinkel, mit dem man dieses ganze Schauspiel betrachtet …“ (Sprecherin A. Kütemeyer)

(Musikakzent)

Im 3. Teil der Sendung geht es um das  Männer- und Frauen-KZ und um die Frage:

Was wusste die Bevölkerung in der Umgebung von Bergen-Belsen?

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Nachtrag: Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist seit Ende 2020 Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar

[1] Die „Israelis gab es noch nicht. Der Staat Israel wurde im Mai 1948 gegründet. Wohl gab es in Palästina (britisches Mandat) lebende vorwiegend russische Juden.

Literaturnachweis:

  • Konzentrationslager Bergen-Belsen – Berichte und Dokumente, 2. Auflage 2002, Vandenhoeck & Ruprecht
  • Lévy-Hass, Hanna: Tagebuch aus Bergen-Belsen 1944-1945, 2009, C.H. Beck
  • Löb, Ladilaus: Geschäfte mit dem Teufel , 2010, Böhlau Verlag

Link:

Ladilaus Löb (dieser Text und Medieninhalt sind unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/)

http://www.bpb.de/mediathek/192739/ich-bin-natuerlich-voreingenommen-er-hat-ja-mein-leben-gerettet

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