“Mix Up”- Magazin im StadtRadio Göttingen ausgestrahlt am 11. April 2006
Sprecherin:
Können Sie sich vorstellen 100 Jahre alt zu werden?
Und angenommen Sie wären jetzt 100 Jahre alt, auf welchen Lebenslauf könnten Sie jetzt zurückblicken?
Der Österreicher Leopold Engleitner wurde am 23. Juli 2005 hundert Jahre alt.
Er stammt aus St. Wolfgang im Salzkammergut.
Der 100 Jährige stellte am 21. Januar 2006 an der Universität Innsbruck den Film und das Buch “100 Jahre ungebrochener Wille” von Bernhard Rammerstorfer vor.
Der Film „100 Jahre ungebrochener Wille“ zeigt einige Stationen des Lebens von Leopold Engleitner.
Leopold Engleitner ist Kaiser Franz Joseph I. als Kind mehrfach begegnet. Er berichtet:
(O-Ton aus dem Film „100 Jahre ungebrochener Wille“ von Bernhard Rammerstorfer):
„Anlässlich eines Sommerbesuches wollte der Kaiser noch einmal alle Schulkinder von Bad Ischl sehen. Wir mussten daher Spalierstehen vom Bahnhof bis zur Kaiservilla.“ (O-Ton Leopold Engleitner)
Sprecherin:
Im Sommer 1930 nahm der arbeitslose Leopold Engleitner eine Statistenrolle an:
Filmsprecher:
„Im Sommer 1930 war Sankt Wolfgang Schauplatz von Dreharbeiten für den Film ‚Liebling der Götter’. Der Kammersänger, Albert Winkelmann dargestellt von Emil Jannings, kehrte nach einer Südamerika Tournee in seine Heimat zurück. Leopold Engleitner musste ihn als Statist in der jubelnden Menge einen feierlichen Empfang bereiten. Dabei brillierte Hans Moser als Komödiant, während Engleitner in den hinteren Reihen seine Statisten Rolle erfüllte.“ (Film-O-Ton)
Sprecherin:
Aufgrund seiner religiösen Überzeugung als Zeuge Jehovas verweigerte er während des
Nazi-Regimes den Dienst in der deutschen Wehrmacht.
Er kam deshalb in die Konzentrationslager Buchenwald, Niederhagen und Ravensbrück.
Über die erste Zeit im KZ-Buchenwald berichtet er:
„In dem Wachzimmer hat mir das Aufsichtsorgan Fragen gestellt, die unmöglich zu seiner Zufriedenheit beantworten hätte können. Also musste ich mich jetzt über eine Bank hinüber beugen. Dann hat er mich mit einem spanischen Stock kräftig auf den Rücken und Hintern geschlagen. Dabei nahm
er das dünne Ende des Stockes in die Hand und mit dem dicken Ende drosch er auf mich ein. Und weil ihm das auch nicht ausreichte, hat er gesagt: “Ich muss dich erschießen.” Aber er erlaubte mir, noch eine Abschiedskarte nach Hause zu schreiben. Jetzt hat er mir eine Karte hergelegt und wie ich schreiben wollte, hat er mich am Ellbogen immer wieder gestoßen, sodass die Karte voller Gekritzle war. Dann schrie er: „Schau dir diesen Trottel an, nicht einmal schreiben kann er, aber Bibellesen kann er.“ Dann zog er die Pistole ganz umständlich heraus, dass ich Zeit zum fürchten hätte und schließlich setzte er sie mir an die Stirn an und fragte mich: „Jetzt ziehe ich ab, bist du gefasst.“ „Jawohl, ich bin gefasst“, habe ich gesagt. „Nein”, hat er gesagt “Du bist zum Erschießen auch zu blöde.“ (O-Ton Leopold Engleitner)
Sprecherin:
Auch im KZ-Niederhagen in Wewelsburg wurde er schlecht behandelt:
Filmsprecher:„Am Bahnhof Wewelsburg, wo er in einem Außenkommando Werkzeug verpacken musste, bekam er die Brutalität der SS wieder am eigenen Leib zu spüren. Am Heimweg musste er sich einem anderen Kommando anschließen. Da er nicht Schritt halten konnte, entstand zwischen ihm und dem Vordermann ein kleiner Abstand. Ein Posten bemerkte das, wurde deshalb wütend und trat ihm von hinten mit dem Stiefel brutal in den Unterleib. Engleitner brach zusammen, krümmte sich vor Schmerzen und konnte sich nicht mehr bewegen.“ (Film-O-Ton)
„Ich konnte nicht mehr gehen. Die anderen Häftlinge mussten mich direkt ins hinein tragen. Beim Appell wurde ich daneben hingelegt. Erst später stellte sich heraus, dass mir dieser Wachtposten den Hoden zertreten hatte.“ (O-Ton Leopold Engleitner)
Sprecherin:
Das KZ- Niederhagen wurde im April 1943 aufgelöst.
Leopold Engleitner kam in das KZ- Ravensbrück.
„Die Lagerverhältnisse waren in Ravensbrück ganz schlecht. Der Wäschewechsel war sehr selten, sodass wir am ganzen Körper voller Läuse und ganz zerfressen waren und die anderen Häftlinge waren gegen uns Bibelforscher so gehässig, schlimmer wie die SS.“ (O-Ton Leopold Engleitner)
Sprecherin:
Aufgrund der Fürsprache des Bürgermeisters in seiner Heimat wurde er am 15. Juli 1943 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück entlassen.
Allerdings musste er sich zur „lebenslangen Zwangsarbeit in der Landwirtschaft“ verpflichten.
Kurz vor Kriegsende – am 17. April 1945 – bekam er noch den Einberufungsbefehl in die Deutsche Wehrmacht.
Leopold Engleitner floh in das Gebirge des Salzkammerguts und versteckte sich in einer Almhütte und in einer Höhle. Wochenlang wurde er von den Nazis gejagt, aber nicht gefunden.
Am 5. Mai 1945 konnte Leopold Engleitner nach Hause zurückkehren
Filmsprecher:
„Diese abenteuerliche Flucht bewahrte ihn vor dem sicheren Tod, denn am Stützpunkt Krummau, wohin er einberufen war, gab es nach einem Angriff der Tschechen keine Überlebenden. Es hatte sich für Leopold Engleitner bezahlt gemacht, dass er selbst unter Todesgefahr nicht von gerechten Grundsätzen abgewichen war. ER ging einen andeeren Weg und konnte so sein Gewissen bewahren. Engleitner stellte mit seinem Leben unter Beweis, dass es möglich war, sich als einfacher Mensch Hitlers Terrorregime zu verweigern. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre in der Tat anderes geschriben worden, hätten mehr Menschen genauso couragiert gehandelt wie Leopold Engleitner. (Film-O-Ton )
© Ingeborg Lüdtke
Der Abdruck der Texte aus dem Film „100 Jahre ungebrochener Wille“ wurde freundlicherweise von Bernhard Rammerstorfer genehmigt.
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Leopold Engleitner verstarb am 21. April 2013.