Die Polizei im Nationalsozialismus – Teil 1

Heinz Ehrhardt Denkmal in Göttingen

Heinz Ehrhardt Denkmal in Göttingen

Welches Bild haben Sie im Kopf,  wenn Sie den Begriff Polizei hören?

Ist es die Verbrecherjagd im Großstadtrevier?

(Einspielung … Truck Stop „Wir im Großstadtrevier“)

oder

ist es Heinz Ehrhardt, der auf der Kreuzung beim Auditorium den Verkehr regelt?

(Einspielung…Musik-Verkehrspolizei)

Oder denken Sie an den Polizisten, der in der Stadt den Bürgern und Besuchern bei kleinen Problemen hilft?

Kennen Sie auch die dunkle Seite der Polizei  im Nationalsozialismus?

Mir wurde die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus erst durch den Besuch der Ausstellung Polizei im NS bewusst.

Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto mehr Fragen hatte ich.

Fragen, die ich mir nie gestellt habe und deren Antworten auch nie im Geschichtsunterricht beantwortet wurden.

Wie war denn der Aufbau der Polizei im Nationalsozialismus?

Wie wurde die Polizei im Nationalsozialismus eingesetzt?

Wie gelang es Heinrich Himmler Polizeichef des gesamten Reiches zu werden?

Wie wurde die Polizei nach 1945 umstrukturiert?

Wäre es heute immer noch möglich, dass ein korrupter Politiker seine eigenen Interessen per Gesetz mit einer 2/3 Mehrheit durchsetzen könnte?

Bleiben Sie einfach dran und hören Sie einfach mal rein

(Musikakzent)

Der Aufbau der Polizei hat sich in den letzten 100 Jahren mehrfach verändert. Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum in Nienburg erklärt den Aufbau der Polizei  in der Weimarer Republik:

„Die Polizei der Weimarer Republik unterschied sich … nicht wesentlich von dem, wie wir unsere Polizei heute in der Bundesrepublik haben. Es war ein föderativer Staat. Die Polizeibefugnis war Ländersache. Die einzelnen Länder haben leichte Unterschiede gehabt. Das größte Land in der Weimarer Republik war Preußen. In Preußen gab … eine staatliche Schutzpolizei. Es gab kommunale Polizeien. Es gab auf dem Land die große Gendarmerie oder die jetzt in der Weimarer Republik umbenannt wurde in Landjäger. … Man trennte jetzt Polizei vom Militär und deshalb bekam die recht militärisch ausgerichtete Gendarmerie den  Namen Landjägerei. … Die Kriminalpolizei gab es natürlich auch in den großen Städten, in den kleineren waren es relativ kleine Dienststellen. Die Dienststellen der Polizei hießen Polizeireviere.

…. Es wurde in Preußen das Polizeibeamtengesetz verabschiedet. Das heißt der Polizeiberuf wurde, …  zu einem richtigen Ausbildungsberuf gemacht. Man musste nicht mehr bei(m) Militär sein, um zur uniformierten Polizei gehen zu können. Man musste nicht mal mehr ein Mann sein. Ab Mitte der 1920er wurden auch  die ersten Frauen in den Polizeidienst eingestellt, …  in eine weibliche Kriminalpolizei … in Preußen, in anderen Ländern in Baden oder Sachsen sogar als uniformierte Polizei.

Dann gab es ein sehr modernes Polizeigesetz. Das wurde … 1931 verabschiedet. Das Polizeigesetz war so modern, dass es 1951 als wir hier in Niedersachsen unser erstes SOG (Sicherheits- und Ordnungsgesetz) bekamen, das Ganze war nur eine Abschrift dieses Gesetzes.“ (O-Ton Götting)

(Musikakzent)

Sprecherin:

Der preußische Innenminister Carl Severin baute die Polizei als „Freund und Helfer“ der Bürger auf. Bisher wurde die Polizei von der Bevölkerung eher als Feind und Gegner angesehen.

Die Polizei in der Weimarer Republik bestand meist aus ehemaligen Unteroffizieren der kaiserlichen Armee. Diese ehemaligen Soldaten mussten lernen, Konflikte friedlich zu lösen.

(Musikakzent)

Dieser moderne Aufbau der Polizei wurde durch die Machtübernahme der Regierung durch die NSDAP wieder geändert.

Doch wie war es möglich, dass die NSDAP durch Heinrich Himmler Macht über die gesamte deutsche Polizei erlangte?

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum deutschen Reichskanzler ernannt.

Am 27.2.1933 wurde das Reichstagsgebäude in Brand gesetzt. Der niederländische  Kommunist Marius van der Lubbe und weitere politische Gegner wurden verhaftet.  Außer Marinus van der Lubbe wurden weitere Personen angeklagt. Marius van der Lubbe wurde als alleiniger Täter zum Tode verurteilt. Die weiteren Angeklagten wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Immer wieder tauchte das Gerücht auf, dass die Nazis den Reichstagsbrand verursacht hätten.

Für Dirk Götting ist der Reichstagsbrand  ein Ereignis, dass die Nazis für ihre Zwecke ausnutzen:

„ Es ist völlig egal, wer ihn letztendlich angesteckt hat, ob es die Nazis selber waren, wie die Kommunisten sagen oder die Kommunisten wie es die Nazis sagen oder ob es ein Alleintäter war … Entscheidend ist, dass er brennt und die Nazis sitzen an der Macht und die nutzen das für sich aus. Sie geben bekannt, dass dies ein Fanal sei und ein Beginn eines kommunistischen Staatsstreiches gegen ihre Regierung. Und sie fordern … von Hindenburg …, ein Sondergesetz um diesem angeblichen bevorstehenden Staatsstreich begegnen zu können.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Die Nationalsozialisten erwirkten beim Reichpräsidenten von Hindenburg  die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat. Diese Notverordnung  wird auch  Reichstagsbrandverordnung genannt.

Die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 setzte wesentliche Grundrechte der Weimarer Verfassung  außer Kraft.

Hitler nutzte diese Notverordnung, um  gegen seine politischen Gegner vorzugehen.

„ … dieses Sondergesetz zum Schutz von Volk und Staat ermächtigt die Nazis, alle diejenigen zu verhaften, die … vermeintlich hinter diesem Staatsstreich stehen.  …Und so setzten Verhaftungswellen ein, die über politische Gegner im engeren Sinne, aber auch über Gewerkschafter, über Intellektuelle, über Pressevertreter sich praktisch durchziehen. Und in diesem Spiel ist die Polizei mittendrin.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Der Haftgrund lautete Schutzhaft. Diese Schutzhaft war eine reine polizeiliche Maßnahme. Jede Mitwirkung der Gerichte war ausgeschlossen.

„Die Personen werden nicht mehr vor die Richter geführt. Man muss sich vorstellen, dass jetzt ab Ende Februar/Anfang März man in Deutschland von der Polizei verhaftet werden kann, ohne das einem die Polizei wirklich sagen kann warum, weil es gibt in der Regel keinen individuellen Haftgrund gibt, sondern es gibt listenmäßige Verhaftungen. Die Kollegen … hätten sagen können: „Sie werden jetzt … in Schutzhaft genommen aufgrund des Gesetzes vom 28.2.1933 zum Schutz von Volk und Staat“. Und die Betroffenen wissen nicht, wie lange sie inhaftiert werden; sie wissen nicht wo sie hinkommen. Sie wissen nicht, was in der Haft mit Ihnen passiert.“ (O-Ton Götting 2)

Sprecherin:

Hausdurchsuchungen, Verbot von Versammlungen,  Parteien und Vereinigungen und die Zensur der Presse konnten völlig legal durchgeführt werden.

Adolf Hitler war es außerdem möglich, das sogenannte Ermächtigungsgesetz durchzubringen. Nun konnte er ohne die Zustimmung des Reichstags Gesetze erlassen und die Verfassung ändern.

(Musik)

Sprecherin:

In Hitlers Regierungskabinett befanden sich auch die die Nationalsozialisten Wilhelm Frick und Hermann Göring. Wilhelm Frick wurde Reichsinnenminister und Hermann Göring wurde nach der Machtübernahme Hitlers kommissarischer Innenminister von Preußen. Göring wurde dadurch oberster Dienstherr der preußischen Polizei.

Hermann Göring begann mit personellen Änderungen innerhalb der Polizei. Demokraten und Republikaner wurden aus dem Polizeidienst entlassen. Auch der Zeuge Jehovas Heinrich Mühlhausen aus Benterode bei Hann. Münden wurde entlassen. Er war bis 1934 Polizei-Hauptwachtmeister bei der Schutzpolizei.

Auch in Führungspositionen der Polizei gab es personelle Veränderungen:

„… als Göring als kommissarischer Innenminister eingesetzt wird, … werden Polizeipräsidenten, die ihm nicht genehm sind, ausgetauscht. … es werden ganz spezielle Leute eingesetzt. Wie in Hannover der Chef der SA Viktor Lutze. … die SA ist ja eine paramilitärische Einheit der NSDAP mit der sich die Polizei … durchaus die eine oder andere Straßenschlacht geliefert hat. Und der Chef dieser paramilitärischen Einheit wird jetzt über Nacht Polizeipräsident… Nur Tage später, wir sind immer noch im Februar gibt der Hermann Göring einen Erlass heraus an seine Polizeibeamtenschaft, in der er sie zur Gewaltanwendung bis hin zum Schusswaffengebrauch auffordert gegen seine politischen Gegner. Und er sagte, die Polizeibeamten brauchen auch nicht dafür die Verantwortung zu übernehmen. Das würde er machen. Dieser ganze Erlass ist rechtswidrig.

Er setze auch …  wenige Tage später, eine Hilfspolizei ein aus SS, SA und Stahlhelm, also Veteranen des 1. Weltkrieges. Und diese Hilfspolizei … kann hier sogar ihre Parteiuniform behalten. Die kriegen nur Armbinden um, da steht dann Hilfspolizei drauf … Die Gewaltanwendung der Hilfspolizei der SS und der SA wird damit scheinbar legalisiert, obwohl dieser Erlass rechtswidrig ist.“ (O-Ton Götting 2)

Sprecherin:

Die politische Polizei wurde aus dem Polizeiapparat  herausgelöst. Dies betraf zunächst nur Preußen und Bayern.

Im April 1933 gründete Hermann Göring die Geheime Staatspolizei in Preußen.  Das Geheime Staatspolizeiamt auch Gestapa genannt, wurde errichtet.

Die Gestapo hatte nun die Stellung einer Landespolizeibehörde. Sie war direkt dem preußischen Innenministerium unterstellt.

In Bayern war es ähnlich wie in Preußen.

(Musikakzent)

Sprecher: (Peter Bieringer)

Heinrich Himmler wurde im März 1933 kommissarischer Polizeipräsident in München. Kurz darauf wurde Himmler Referent im Staatsministerium des Innern. Himmler hatte nun die Kontrolle über die Politische Polizei  Bayerns.  In demselben Monat wurde  er Kommandeur der Bayrischen Politischen Hilfspolizei. Er konnte nun SS-Angehörige als Hilfspolizisten einsetzen.

Am 1. April 1933 wurde Himmler zum Politischen Polizeikommandeur Bayern ernannt. Außerdem wurde ihm die formelle Zuständigkeit für alle Schutzhaftangelegenheiten übertragen.

In Bayern kontrollierte Himmler nun die Politische Polizei, die Politische Hilfspolizei und die Konzentrationslager.

Himmler übernahm 1934 von Göring die Leitung der Gestapo in Preußen.

Bis Juni 1934 konnte Himmler die Politischen Polizeien der übrigen deutschen Länder übernehmen.

Als mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934 die Selbständigkeit der Länder aufgehoben wurde, ging auch die Polizeihoheit auf das Reich über.

Die Politischen Polizeien der Länder wurden bis 17. Juni 1936 durch Landesrecht geregelt. Der  Erlass von Hitler vom 17. Juni 1936 verband  das Amt des Reichsführers SS (RFSS) mit dem neu geschaffenen Amt des Chefs der Deutschen Polizei.

Das Amt des Reichsführer SS war ein Amt der Partei NSDAP. Das Amt des Chefs der Deutschen Polizei war ein staatliches Amt. Der gesamte deutsche Polizeiapparat wurde durch das Verbinden beider Ämter zentralisiert. Man spricht deshalb von Verreichlichung.

Auf der anderen Seite wurde die Polizei mit der SS verbunden. Dieses führte zur Entstaatlichung, da die Polizei aus der staatlichen Verwaltung herausgelöst wurde.

„Formell war Heinrich Himmler Chef der Deutschen Polizei. … Das suggeriert, er ist dem Reichsinnenminister nachgeordnet, so wie es traditionell gewesen sein müsste.  Himmler hatte aber das Recht, bei den Polizeisachen am Kabinetttisch zu sitzen. Das heißt praktisch, war er Polizeiminister von Deutschland und der Reichsinnenminister hatte ihm nichts zu sagen.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Als Reichsführer SS war Himmler Adolf Hitler direkt unterstellt.

Heinrich Himmler wurde 1943 Reichsinnenminister, dadurch wurde ihm formell die gesamte deutsche Polizei und der Sicherheitsdienst (SD) unterstellt.

(Musik)

Sprecherin:

Gleich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten schaltete man innerpolitische Gegner aus.  Innerpolitische Gegner waren Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten. 

Die Hilfspolizei und die reguläre Polizei führten Terrormaßnahmen gegen innerpolitische Gegner aus.

Einige Terrormaßnahmen der Polizisten und Hilfspolizisten beruhten auf persönlichen Rachegefühlen und dem Bewusstsein Macht über die Gegner zu haben. Dies bestätigt auch Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum in Nienburg:

„Die Verfolgung der politischen Gegner auf Basis der Reichstagsbrandverordnung gestaltete sich … so, dass man durch die Polizei verhaftet werden konnte, aber auch durch die Hilfspolizei. Die Hilfspolizei sind eben die Schergen aus der SA und der SS. Und man landete, wenn man festgenommen wurde, nicht nur in normalem Polizeigewahrsam oder in Haftanstalten, sondern auch in provisorischen Gefängnissen der Hilfspolizei und das sind eben die berühmt berüchtigten Folterkeller der SA. Und dort wurde mit politischen Gegner zum Teil aus den lokalen Bereichen, die bekannt waren mit denen man in Anführungsstrichen noch eine alte Rechnung offen hat, auch sehr brutal umgegangen. Das Bild von Carl von Ossietzky, das fast in jedem Schulbuch zu finden ist, spricht ja Bände.  … Auf öffentlichen Druck wird ein Mann vorgeführt, dem man offensichtlich das Gesicht zerschlagen hat und auch obwohl die Medien aufmerksam beobachten, wird er wenig später umgebracht. Die Brutalität und die Skrupellosigkeit ist schon erschreckend.“

(Musikakzent)

Sprecherin:

ehemalige KommandanturAuch in Moringen bei Göttingen wurde 1933 das Werkhaus als Konzentrationslager für innerpolitische Gegner genutzt. Anfangs wurden nur Männer inhaftiert. Ab Juni 1933 kamen auch zwei Frauen dazu. Die Bewachung übernahm die Polizei:

„Und die erste Wachmannschaft, die dort eingesetzt wird zur Bewachung dieser politischen Gefangenen, sind Schutzpolizisten aus der Polizei Hannover, die unterstützt werden durch örtliche Kräfte der Hilfspolizei., also SA, SS aber auch der örtliche Gendarm ist dabei. Also es gibt … eine enge Verbindung schon, zwischen SS, SA und Polizei. Später, gibt es auch Auseinandersetzungen zwischen SS und Polizei“. Mir ist das zumindest aus  (dem) Bereich eines anderen großen Lagers der frühen Zeit bekannt in Esterwegen, im Moorlager.“ (O-Ton-Götting)

(Musikakzent)

Die Nationalsozialisten stuften immer weitere Gruppen als Gegner des Regimes ein. Nun wurden auch Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, damals noch Bibelforscher genannt und Homosexuelle verfolgt.

Massenverhaftungen gab es auch bei sogenannten „Berufsverbrechern“ und sogenannte „Asoziale“.  Als Berufsverbrecher bezeichnete man Personen, die schon mehrfach wegen Diebstahl oder anderer Delikte aufgefallen waren.  Unter „Asozialen“ verstand man z.B. Arbeitslose, die man als „arbeitsscheu“ einstufte, Bettler, Landstreicher, Zuhälter, Prostituierte oder Alkoholiker.

Auch Jugendliche gerieten in das Verfolgungsraster. Ab 1937 gibt es eine zentral gesteuerte Polizeiabteilung  zur Bekämpfung der Jugendkriminalität.

„… unter Frau Wieking, der Leiterin in Berlin, die höchstrangige Frau in der weiblichen Kriminalpolizei, werden diese Frauen zuständig sozusagen um  Sozialprognosen über auffällige Jugendliche abzugeben. Erst sind es wirklich kriminelle Jugendliche, aber zunehmend geraten auch Jugendliche in diesen Fokus, die von der örtlichen Hitlerjugend denunziert werden, weil sie nicht regelmäßig zu den Hitlerjugendabenden erscheinen. Und diese  Frauen in der WKP weiblichen Kriminalpolizei können Gutachten abgeben, Sozialprognosen und fallen die schlecht aus, dann können sie sie in ein eigenes Lager einweisen für Jugendliche. Es gibt eins für Jungs, dass ist das, was jetzt als Nachfolger des Konzentrationslagers in Moringen entsteht und für Mädchen in  Fürstenberg in der Uckermark.“ (O-Ton Götting 2)

Dr. Dr. Robert Ritter leitete ab 1941 das Kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei.  Robert Ritter besuchte häufig das Jugend-KZ Moringen. Er teilte die Jugendlichen ein in „Untaugliche“, “ Störer“, “ Dauerversager“, “ Gelegenheitsversager“, “ fraglich Erziehungsfähige“, und “ Erziehungsfähige“. Seine Einschätzung der inhaftierten Jugendlichen wirkte sich auf ihr weiteres Leben aus. Einige Jugendliche wurden in Konzentrationslager für Erwachsene überstellt und starben dort.

Über die Forschungsmethoden von Robert Ritter referierte der Historiker Hans Hesse in der Uni Göttingen im November 1998:

„Ab 1932 begann er sich mit Arbeiten über sogenannte asoziale Jugendliche zu befassen, hierbei wählte er als Forschungsmethode die Genealogie. Das heißt Ritter versuchte durch archivalische Untersuchungen und Erstellen von Stammbäumen einen durch angeblich zehn Generationen nachweisbaren Schlages, ich zitiere `primitiven Artverbrechern` aufzudecken. Einmal vereinfachend, bestand Ritters Methode in etwa darin, seine These lautete: Kriminelles oder Asoziales ist erblich. Beweis: Die Vorfahren eines bestimmten Menschen waren bereits vor 150 Jahren kriminell oder asozial. Des Weiteren ging er davon aus, dass sich die vermeintlichen Erbanlage auf enge (wie es hieß) Züchtungskreise beschränkt. … Wie Ritter eigentlich bestimmen konnte, dass eine Familie in 18.Jahrhundert asozial gewesen sei,  ist nur noch schwer nachzuvollziehen, da alles Material von Ritters vernichtet oder sagen wir mal bis heute verschwunden ist.“ (O-Ton-Hans Hesse)

Robert Ritter forschte bereits über den Erwerb der Sinti und Roma, aber er hatte auch die Zeugen Jehovas im Blick:

„… Dr. Dr. Robert Ritter wollte sich über den Erbwert der Zeugen Jehovas klarwerden. Das heißt er wollte feststellen, ob es sich bei den Zeugen Jehovas um rassisch minderwertige oder höher wertige Menschen handelte. Diese Untersuchungen und Forschungen Ritters hatte er schon öfter angestellt zum Beispiel an … Sinti und Roma. Diese Gutachten …  waren … die Basis für die spätere Ermordung der Sinti und Roma in dem Vernichtungslager Auschwitz.“ (O-Ton Hesse)

(Musik)

Sprecher: (Peter Bieringer)

Anfangs verfolgte die SS gezielt bestimmte Personengruppe. Später geriet das gesamte deutsche Volk unter Generalverdacht.

Mit Beginn des 2.Weltkrieges trat die Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 17. August 1938 in Kraft.

Der Paragraph 5, Zersetzung  der Wehrkraft lautet:

Absatz 1 Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird zum Tode bestraft:

  1. wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht;
  2. wer es unternimmt einem Soldaten oder Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes zum Ungehorsam, zur Widersetzung oder zur Tätlichkeit gegen einen Vorgesetzten oder zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung zu verleiten oder sonst die Manneszucht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu untergraben; (LESEN LASSEN)

Emmy Zehden versteckte ihren Adoptivsohn Horst Schmidt und zwei Freunde, um sie als Kriegsdienstverweigerer vor dem Tod oder dem Konzentrationslager zu bewahren. Sie wurde wegen Wehrkraftzersetzung in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet. Der Emmy-Zehden-Weg erinnert heute in Berlin an sie.

Horst Schmidt, der Adoptivsohn von Emmy Zehden wurde von der Gestapo gejagt und ins Zuchthaus Brandenburg-Görden gebracht.

Im Februar 2004 erklärte er in der  Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Göttingen, warum er verhaftet wurde:

„Ich wurde vom Volksgerichtshof in Berlin vom 4. Senat zum Tode verurteilt wegen Verweigerung des Militärdienstes, wegen Zersetzung der  Wehrkraft und einfach auch, weil ich Zeuge Jehovas, damals sagte man Bibelforscher, war. Dann kam ich im Dezember 1944 zur Vollstreckung dieses Urteils nach Brandenburg.“ (O-Ton Horst Schmidt)

Sprecherin:

Horst SchmidtHorst Schmidt entging dem Todesurteil. Er wurde am 27.April 1945 von der russischen Armee befreit.

(Musikakzent)

Sprecher: (Peter Bieringer):

Am  1. September 1939 trat die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ in Kraft. Paragraf 1 und 2 lauten:

  • 1 Das absichtliche Abhören ausländischer Sender ist verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Zuchthaus bestraft. In leichteren Fällen kann auf Gefängnis erkannt werden. Die benutzten Empfangsanlagen werden eingezogen.
  • 2 Wer Nachrichten ausländischer Sender, die geeignet sind, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden, vorsätzlich verbreitet, wird mit Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit dem Tode bestraft.

Sprecherin:

Solche Hinrichtungen wurden auch im Zuchthaus Brandenburg-Görden vollzogen.

(Musik)

Sprecherin:

Auch die Feuerwehr wurde der Polizei zugeordnet.

Bis 1933 unterstanden die Feuerwehren den Kommunen. Die Freiwillige Feuerwehr organisierte sich in Vereinen.

Ab 1933 wurde die Feuerwehr schrittweise  „gleichgeschaltet“.  Die Feuerwehren wurden umstrukturiert, zentralisiert, ideologisiert und militarisiert.

Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten wurden aus den Feuerwehren ausgeschlossen.

Das  „Gesetz über das Feuerlöschwesen“ vom 15.12.1933 ordnete die Feuerwehren der Polizei zu. Die Feuerwehren werden in „Feuerlöschpolizei“ umbenannt. Dies gilt zuerst nur für Preußen.

Am 23. November 1938 trat das Reichsgesetz über das „Feuerlöschwesen“ in Kraft. Aus der Berufsfeuerwehr wurde die „Feuerschutzpolizei“.

Feuerwehren in Vereinsorganisationen wurden verboten. An ihre Stelle trat eine Hilfspolizeitruppe, die nach Löscheinheiten gegliedert war.

Heinrich Himmler wurde nach 1938 der Befehlshaber der Feuerwehr. Die Feuerwehrmänner leisteten als Teil der Polizei ihren Eid auf Adolf Hitler als Führer.

Die neue Uniformfarbe der Feuerwehren war grün. Auch die Feuerwehrfahrzeuge wurden grün lackiert.

Über die Zusammenarbeit der Feuerwehr mit der SS und SA im Jahr 1938 berichtet die Historikerin Cordula Tollmien in Ihrer Dissertation „Nationalsozialismus in Göttingen“:

Denkmal für die alte Göttinger Synagoge

Denkmal für die alte Göttinger Synagoge

„Im Gegensatz zu den Ausschreitungen der Märznacht 1933 und des August und September 1935 war das Novemberpogrom in erster Linie eine Angelegenheit der SS. Die SA trat erst im Laufe des 10. November bei einzelnen Überfällen und Plünderungen in den Wohnungen auf und präsentierte sich im Übrigen in gewohnter Weise als Ordnungsmacht bei der Absperrung und Sicherung der verwüsteten Geschäfte und bei den Löscharbeiten an der Synagoge.

Feuerwehr Göttingen

Feuerwehr Göttingen

Die Göttinger Synagoge hatte seit 1 Uhr nachts in Flammen gestanden, angezündet von der SS unter tatkräftiger Mithilfe des Leiters der Göttinger Berufsfeuerwehr, Wilhelm Rodenwald. Dieser hatte nicht nur in einer kurz vor Mitternacht einberufenen Besprechung zwischen Oberbürgermeister Gnade, SS-Standartenführer Friedrich Steinbrink … und den Leitern der Göttinger Kriminal-bzw. Vollzugspolizei die besten Methoden zur Inbrandsetzung der Synagoge diskutiert, sondern auch persönlich Kanister mit Benzin aus den Beständen der SS zum Brandherd transportiert. Lediglich die Freiwillige Feuerwehr unter ihrem Leiter Hermann Grote stand zum Löschen bereit, hatte aber den strikten Auftrag, nur die angrenzenden Wohnhäuser zu schützen“. (gelesen von Peter Bieringer)

Während die Feuerwehr in Göttingen aktiv am Abbrennen der Synagoge beteiligt war, hat ein Feuerwehrmann in Dransfeld das Abbrennen der Synagoge verhindert. Über die Motive des Feuerwehrmannes wird laut Ernst Achilles vom Dransfelder Bürgerforum noch immer gerätselt.

Jüdische Synagoge Dransfeld

Jüdische Synagoge Dransfeld

„Es wurde gesagt: Das Abbrennen der Synagoge  ist von einem Feuerwehrmann verhindert worden. Und jetzt teilt sich im Grunde die Interpretation der Handlung. Das Abbrennen, das Abfackeln ist verhindert worden. Die einen sagen, ein Feuerwehrmann mit großer Zivilcourage hat es verhindert, dass die Synagoge abgebrannt wurde. Die anderen sagen: Nein, eigentlich steckt dahinter die ganz dichte Bebauung, die angrenzende Tischlerei: Wenn es zu einem Brand gekommen wäre, wäre die ganze Straßenzeile abgebrannt. Das ist der Grund. Dies ist eine Frage, die in Dransfeld bei den älteren Bewohnern immer wieder aufkommt, wenn man ins Gespräch kommt. Einer Antwort scheint man da nicht näher zu kommen“. (O-Ton Ernst Achilles)

(Musik)

Sprecher: (Peter Bieringer):

Neuere Forschungen brachten das Bild der „anständigen Polizei“ ins Wanken. Lange wurden viele  Aufgabenbereiche der Polizei verschwiegen, zum Beispiel:

Die Ordnungspolizei sicherte und begleitete Deportationszüge in die Konzentrationslager und Vernichtungslager.

Zum Teil bewachten ältere Polizisten oder  Reservepolizei KZ-Häftlinge.

Einige  Einheiten der Ordnungspolizei nahmen im Zweiten Weltkrieg an Kriegseinsätzen teil. Deutsche Polizeikräfte besetzten Österreichs und das Sudetenland noch vor Kriegsbeginn.

Die Polizei beteiligte sich beim Völkermord an den  Juden und an den Sinti und Roma.

Polizeieinheiten beteiligten sich an Massenerschießungen von Juden und der Ermordung anderer NS-Opfer von 1941 bis 1944 in Polen, im Baltikum und in Weißrussland.

Die Gestapo war in die Bewachung von ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangener eingebunden.

Hilfspolizisten halfen bei der Bewachung von Kriegsgefangenen.

Polizeibeamte beteiligten sich im KZ Mauthausen an der „Aussonderung“ von „politischen Kommissaren“ von sowjetischen Kriegsgefangenen. Diese wurden danach im Lager auf unterschiedliche Weise getötet. Dies widersprach den Regeln der Menschenrechte.

(Musikakzent)

Laut Dr. Dirk Götting vom Polizeimuseum Nienburg hatten einfache Polizisten unter dem NS-Regime einen großen Handlungsspielraum:

Entscheidend, … ist die Macht, die Möglichkeit, die so einfache Polizeibeamte hatten in dieser Zeit. … stellen Sie sich einfach mal einen Mitarbeiter der Kripo vor. Der hat sich schon einige Zeit mit einem Menschen dienstlich beschäftigen müssen, …, und der beschließt, das möchte er zukünftig nicht weiter tun. Vielleicht kann man diesen Menschen ja praktisch in die Vorbeugehaft nehmen. Also vorbeugende Verbrechensbekämpfung, so heißt die Strategie. Das heißt Menschen zu inhaftieren, die eventuell wieder Straftaten begehen könnten, als eine vorbeugende Maßnahme. Dafür gibt es Anweisungen, aber letztendlich heißt das, man muss einen Bericht schreiben, seine Vorgesetzten davon überzeugen, dass es sinnvoll ist, dass dieser Mensch in Vorbeugehaft genommen wird. Wenn ihm das gelingt, der Vorgesetzte zustimmt, dann wird dieser Mensch in ein Konzentrationslager eingewiesen, in Vorbeugehaft genommen. Und der Polizeibeamte muss nicht fürchten, dass ein Anwalt oder ein Gericht ihn in dieser Sache irgendwie korrigiert oder er muss sich da auch nicht rechtfertigen. Das ist eine unwahrscheinliche Machtposition. … wir haben auch Beispiele dafür, dass dieser Handlungsspielraum, nicht nur negativ ausgenutzt wird als Machtdemonstration, sondern auch, … dass sich Polizeibeamte ein Stück weit … einen Bewegungsspielraum lassen. Ich habe selber ein Beispiel vor Augen, … jemand …, der war in der Zigeunerzentrale, [er hat] also Sinti und Roma verfolgt, aber auch Personen vor Verhaftungen gewarnt . Gleichzeitig ist er aber als extremer Antisemit aufgefallen. … aber der Handlungsspielraum sowohl der Möglichkeiten Macht auszuüben, auch eben mal etwas mal nicht zu tun, der war extrem groß in dieser Zeit.“ (O-Ton Götting)

Sprecherin:

Auch der Göttinger Polizeibeamte in Göttingen Grone tat manchmal etwas nicht. Der Zeuge Jehovas Willy Schmalstieg schreibt in seinem Lebenbericht, dass der Polizist in Göttingen-Grone ihm wohlgesonnen war. Er überhörte, dass Willy Schmalstieg nicht „Heil Hitler“ sagte. Als er keine Reisepapiere als Vertreter mehr erhalten konnte, riet er ihm sich beim Arbeitsamt zu melden. „Stellen Sie bitte einen neuen Antrag, denn Sie und ihre Familie wollen doch schließlich leben“, sagte er.

(Musikakzent)

stille_hunde_WERBEMOTIV_Die_Besserung_2Das Theaterstück Die Besserung von der Theatergruppe Stille Hunde beruht auf Berichten überlebender Häftlinge des Jugendkonzentrationslagers Moringen.

Auch hier wird die Handlungsmöglichkeit einzelner  Polizisten gezeigt:

Franz: (gesprochen von Christoph Huber)

Die Polizisten,

die mich dorthin gebracht haben,

das waren die letzten anständigen Menschen,

die ich bis zum Ende des Kriegs gesehen habe,

das kannst Du mir glauben.

Da waren noch zwei andere Jungs dabei,

ein dunkelhaariger großer, bestimmt schon siebzehn

und so ein schmaler, drahtiger, kleiner.

Willi hieß der. Willi Priebe aus Oldenburg.

Ich weiß nicht genau, was der alles gemacht haben soll.

Der war so alt wie ich.

Der uns haben da auf einer Bank vor dem Bahnhof gesessen,

und gewartet, dass uns die SS abholt.

Da packt einer der Polizisten,

die uns in dem Zug nach Moringen gebracht haben,

Wurstbrote aus.

Ganz dick belegte Stullen, viel Butter drunter.

„Jetzt esst mal schön, Jungs“, sagt er,

„Das muss eine Weile vorhalten.

Wird dauern, bis ihr wieder so was Gutes kriegt“.

Als der SS-Mann kam, ein ganz junger Kerl,

hat der Priebe gleich eine gefangen,

so ne schallende Ohrfeige,

weil er mit vollem Mund „Heil Hitler“ gesagt hat.

Ich seh´ ihn noch genau vor mir.

Wie er plötzlich auf dem Boden lag,

die Augen vor Schreck ganz weit aufgerissen,

Lippe aufgeplatzt,

und das halb gekaute Wurstbrot hing dem SS-Mann auf dem Jackenärmel.

Der war vielleicht sauer.

Wenn nicht einer von den Polizisten dazwischen gegangen wäre

Und gesagt hätte, dass er Befehl habe,

die Jungs heil im Lager abzuliefern,

hätte der von der SS den Priebe auf dem Bahnhof richtig verdroschen.

Ich glaube, der hatte sogar eine Waffe gezogen.

Beim Rausgehen sag der SS-Mann zu den Polizisten noch:

„Kann sein, dass Sie es nur nett gemeint haben,

aber ich muss Meldung machen.

Vor allem den Zigeuner hätten Sie nicht füttern dürfen. (O-TON)

(Musikakzent)

Im 2. Teil der Sendung geht es um die Umstrukturierung der Polizei nach 1945.

Außerdem geht um die Rolle der Polizei bei der Vernichtung der Juden in Polen

Und es geht um die Frage, ob heute noch ein korrupter Politiker per Gesetz seine eigenen Interessen durchsetzen kann.

(Musikakzent)

Sprecherin: Ingeborg Lüdtke und Peter Bieringer

(gesendet am 27.1.2017 um 12 h im StadtRadio Göttingen)

© Ingeborg Lüdtke

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Weiterführende Literatur + Link:

Hans Buchheim, SS und Polizei im NS-Staat

1964, Selbstverlag der Studiengesellschaft für Zeitproblem, Duisburg

Polizei, Verfolgung u. Gesellschaft im Nationalsozialismus

(Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 15)

Hrsg. KZ-Gedenkstätte Neuengamme

2013, Edition Temmen, Bremen

Peter Longerich, Heinrich Himmler

Biographie

2008, Pantheon Verlag

http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-deutsche-polizei-im-nationalsozialismus/

Michael Bollmann

http://stadtarchiv.goettingen.de/widerstand/frames/fr_zeugen-jehovas-goettingen.html

Widerstand in Göttingen

Nutzungsrechte:

„Die Besserung“ (Textauszug + Foto): Mit freundlicher Genehmigung der Theatergruppe „Stille Hunde“

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