Seit dem 9. November 1973 soll das Gedenkmal auf dem Platz der Synagoge in Göttingen, Menschen zum Nachdenken an die Verfolgung der Juden im 3. Reich veranlassen. In meiner heutigen Sendung geht es um Max Liebster, der als jüdischer Mitbürger in Deutschland geboren wurde. Auch er hat die Reichspogromnacht am 9. November 1938 miterlebt.
Wir schreiben den 26. Oktober 2003. Max Liebster stellt heute seine deutsche Übersetzung des Buches „Hoffnungsstrahl im Nazisturm“ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vor. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme liegt bei Hamburg. Ich möchte sie einladen, mich auf meiner Reise zur Gedenkstätte zu begleiten.
(Musikakzent)
Ich fahre mit dem Auto um 9 Uhr zum Göttinger Hauptbahnhof.
(Motorengeräusch)
Auf Gleis 9 steige ich in den ICE nach Hamburg ein.
„Bitte einsteigen. Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt“.
(Geräusch der rollenden Räder des Zuges)
In Hamburg angekommen, fahre ich mit der S-Bahn nach Bergedorf, um mit dem Bus zur KZ-Gedenkstätte zu fahren.
(Geräusch des Treppensteigens)
In dem Haltestellenhäuschen sitzen zwei miteinander rangelnde blonde Mädchen. Die Mädchen sind ca. 11-12 Jahre alt. Die Mädchen verlassen nun das Häuschen und ich setze mich.
(Lärm fahrender Autos)
Während ich meine Gedanken nachhänge, höre ich die Mädchen rufen: „Blödmann, Doofmann.“ Ich fühle mich nicht angesprochen. Meine Gedanken gehen zur Filmpremiere von dem Film „Das Mädchen mit dem lila Winkel“. Der Film handelt von Hermine Schmidt und wurde von Fritz Poppenberg gedreht. Hermine Schmidt erzählt: „Und dann kam schon die SS und dann wurde es hart, dann wurde es sehr schlimm, weil kein Schimpfwort war ihnen zu unflätig, zu gemein, um es nicht über mich ergehen zu lassen. Sie beschimpften mich fürchterlich. Und sagten sie: ‚Das stimmt doch, das bist Du doch alles?’“
Während ich noch so nachdenke, werden die Beschimpfungen der Mädchen beleidigender. Sie rufen unter anderem: „Hure, ficken.“ Und sie meinen tatsächlich mich. Die Kleine kommt nun an und spuckt sogar zweimal vor mir aus. Ich überlege, ob ich die beiden weiterhin ignorieren soll. Doch dann kommt Leben in mich. Ich denke: „ Das muss ich mir nun wirklich nicht von diesen Gören gefallen lassen. Ich muss nicht das Opfer ihrer Langeweile sein. Nicht in diesem Staat.
Ich stehe auf und gehe zu ihnen und motze sie an: „Ihr findest Euch wohl obercool?“ Die Größere sagt: „Das war ich nicht.“ Ich motze die Kleine an: „Hast Dir schon einmal Gedanken gemacht, warum Du das machst?“
Schweigen.
Ich setze mich wieder. Die Kleine äfft mich nun nach: Ihr findet Euch wohl obercool? Hast Du Dir schon mal Gedanken gemacht, warum Du das machst?“
Ich reagiere nicht. Die beiden kommen zu mir in das Häuschen und fragen, ob ich eine Freundin besuchen möchte. Ich frage sie, ob sie schon einmal in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme waren. Die Große weiß wovon ich rede. Die Kleine denkt da eher an das Gefängnis, dass es bis vor kurzem dort gegeben hat. Sie sagen noch etwas, aber ich reagiere nicht mehr und hoffe, dass bald ihr Bus kommt.
(Motorengeräusch)
Endlich kommt ihr Bus und sie steigen ein. Sie setzen sich nach hinten und winken mir noch wie wild. Ich schau einfach weg. Endlich fährt der Bus ab. Auch mein Bus kommt.
Während ich im Bus sitze, frage ich mich, was passiert wäre, wenn es jetzt junge Männer mit Springerstiefeln gewesen wären. Oder was wäre passiert, wenn ich mich noch im 3. Reich befunden hätte? Wie hätte ich mich wohl gefühlt, wenn ich Jude wäre und plötzlich ohne Vorwarnung attackiert worden wäre? Vielleicht sogar attackiert von Menschen, die früher meine Freunde oder Nachbaren waren. Ich hoffe darauf während der Veranstaltung eine Antwort zu bekommen.
In der Gedenkstätte angekommen, führe ich als erstes das geplante Interview mit dem Gedenkstättenleiter Dr. Detlef Garbe.
Ingeborg Lüdtke:
Herr Dr. Garbe, von wann bis wann bestand das KZ Neuengamme und welche Häftlingsgruppen gab es?
Dr. Detlef Garbe:
Das Konzentrationslager Neuengamme ist im Dezember 1938 als Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen in der Nähe Hamburgs, in den Hamburger Landgebieten eingerichtet worden. Im Januar 1940 kam der Reichführer der SS Heinrich Himmler hier her und beschloss bei dieser Besichtigung, dass Neuengamme zu einem großen, zentralen Konzentrationslager für den norddeutschen Raum erweitert werden sollte. Es wurde dann im Laufe des Frühjahrs 1940 selbstständiges KZ-Hauptlager und bestand bis zur Auflösung im Mai 1945.
Über 100.000 Menschen waren hier inhaftiert. Es waren Menschen, die in das Lager kamen, weil sie in den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Ländern Widerstand geleistet hatten. Sie hatten sich gegen die ihnen auferlegte Zwangsarbeit gewehrt. In das Lager kamen auch Menschen, die aus politischen, rassistischen und religiösen Gründen verfolgt worden waren. Unter den über 100.000 Häftlingen befanden sich zu über 90% Menschen aus dem Ausland. Sie kamen vor allem aus der damaligen Sowjetunion, aus Polen, aus Frankreich und dann auf Grund der Lage Neuengammes im Norden Deutschlands, auch aus Belgien, Niederlande und Dänemark.
Ingeborg Lüdtke:
Was war nun das Besondere an dem KZ Neuengamme?
Dr. Detlef Garbe:
Der Zweck des Konzentrationslagers Neuengamme war die Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge und zwar unter Bedingungen, die keinerlei Rücksicht auf das Leben nahm. Das heißt, die Menschen wurden sehr schlecht versorgt, ernährt und untergebracht. Aber gleichzeitig wurden sie zu mehr als 12 Std. täglich zu sehr schwerer Arbeit eingesetzt. Sie arbeiteten vor allem im Abbau von Ton und in der Produktion von Klinkersteinen. Das war anfangs der Hauptzweck des Konzentrationslagers Neuengamme. Ab Mitte des Krieges kam die Rüstungsproduktion hinzu. Zunächst arbeiteten sie in Fabriken, die auf dem Gelände des KZ selbst entstanden. Die Häftlinge waren vor allem aber für die Waffenfirma Walther tätig. Später mussten sie aber auch im Bereich der U-Boot-Teile-Fertigung arbeiten und auch Zünder für Flakgranaten herstellen.
Ab 1942 entstanden eine Vielzahl von Außenlagern in den industriellen Ballungsgebieten Norddeutschlands, wie in Hamburg, Bremen, Braunschweig, Salzgitter. In den Außenlager sind die Häftlinge vor allem bei Firmen und auf Werften zu Zwangsarbeiten in der Rüstungsproduktion eingesetzt worden. Insgesamt zählten zum KZ Neuengamme 86 Außenlager.
Ingeborg Lüdtke:
Warum ist das KZ Neuengamme weniger bekannt als zum Beispiel das KZ Bergen-Belsen und wie ging es nach 1945 weiter?
Dr. Detlef Garbe:
Das Konzentrationslager Neuengamme ist, obwohl es mit über 100.000 Häftlingen und über 80 Außenlagern eines der großen Konzentrationslager auf deutschen Boden ist, weniger bekannt als Buchenwald, Dachau und Bergen-Belsen.
Der Grund dafür ist, dass hier am 5.Mai 1945, als britische Truppen das Lager betraten, das Lager vollständig geräumt war. Von Neuengamme gibt es also nicht die Aufnahmen von zu Skeletten abgemagerten Menschen und Leichenbergen, die es von Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau bei der Befreiung gibt. Und diese Aufnahmen haben sehr stark das Bild und die Bekanntheit der jeweiligen Lager geprägt. Denn von Neuengamme waren die letzten 30.000 Häftlinge vor allen in die Sterbelager Bergen-Belsen, Sandbostel und Wöbbelin transportiert worden. Die letzten über 10.000 Häftlinge des Stammlagers kamen auf Schiffe, die als schwimmende Konzentrationslager genutzt worden. Das bekannteste Schiff ist die „Cap Arcona“, die dann tragischerweise am 3. Mai 1945 durch britische Jagdbomber versenkt worden ist, weil sie dieses Schiff für einen Truppentransporter hielten. Das Lager Neuengamme konnte, da es die Verbrechen verbarg, die sich an diesem Ort zugetragen hatten, ungeachtet moralischer Bedenken sehr bald weitergenutzt werden. Zunächst brachten die britischen Besatzungsbehörden hier Kriegsgefangene und dann Internierte unter, also vor allem Funktionsträger der Nazi-Partei und anderer Nazi-Organisationen. Ab September 1948 befand sich auf dem Gelände, nach Rückgabe an die Stadt Hamburg, ein Gefängnis. Dieses Gefängnis bestand fast 55 Jahre und erst im Juni des Jahres 2003 wurde der Gefängnisbetrieb eingestellt und die zahlreichen noch erhaltenen KZ-Gebäude an die Gedenkstätte übergeben.
(Musik)
(Viele Menschenstimme) Inzwischen hat sich der Saal, in dem die Veranstaltung stattfinden soll gefüllt. Dr. Detlef Garbe beginnt mit den einführenden Worten:
„Ich freue mich sehr, dass Ehepaare Simone und Max Liebster hier begrüßen zu dürfen. Nicht nur weil es für uns immer eine Freude ist, wenn ehemalige Häftlinge, die den Schrecken von Neuengamme am eigenen Leib erfahren mussten, zu uns kommen, um von dieser Zeit zu berichten, sondern in diesem Fall ist die Freude noch aus zwei weiteren Gründen sehr groß. Ich habe es selber nicht gewusst, sondern eben zum ersten Mal erfahren, dass Herr Liebster, der in vielen Lagern gewesen ist – und das wird gleich noch Gegenstand seines Berichtes sein – davon hier ein Jahr in Neuengamme war. Er kommt jetzt nach 61 Jahren das erste Mal wieder zurück an diesen Ort. Der andere Grund der Freude ist, dass diese Veranstaltung nicht nur ein Zeitzeugengespräch ist, wie das die KZ-Gedenkstätte Neuengamme das regelmäßig einmal im Monat durchführt, sondern die Veranstaltung ist verknüpft mit einer Buchvorstellung.“
Uwe Klages von der Arnold-Liebster-Stiftung erklärt kurz, dass die Arnold-Liebster-Stiftung von Max und Simone Liebster gegründet wurde. Die Stiftung soll zur weiteren Aufklärung über den Holocaust beitragen. Uwe Klages bittet uns die Stiftung zu unterstützen und ein Buch zu kaufen. Er wird nun etwas aus dem Buch (Seite 40, 3. Kapitel) vorlesen:
„Laures Familie empfing mich herzlich. Plötzlich polterte es heftig an Ecksteins Eingangstür. Ein gellender Aufruf ‚Aufmachen! Polizei!‘ ließ Laures Vater aufspringen und zur Tür hasten. Das Entsetzen in Laures samtenen braunen Augen spiegelte meine ganze Bestürzung wider. Augenblicklich wurde mir klar, wie töricht es von mir gewesen war, hierher zu kommen.
Die Beamten bauten sich am Eingang auf und hielten einen von der Viernheimer Polizei ausgestellten Haftbefehl für Max Liebster in den Händen. Ich erstarrte. ‚Sie sind verhaftet! Sie wissen genau, was Ihnen jetzt blüht. Marsch!‘
Im Gefängnis öffnete der Wärter eine Zelle, stieß mich hinein und knallte die schwere Tür hinter mir zu. Der Schock, ohne jegliche Anhörung eingesperrt worden zu sein, machte mich ganz benommen vor Empörung. Ich war doch ein deutscher Bürger. Ich war fest davon überzeugt, dass irgendwann ein Beamter oder vielleicht ein Anwalt erscheinen würde. Dann würde ich alles erklären können: ‚Ich bin unschuldig! Ich ein ehrlicher und arbeitsamer Mensch. Ich bin kein Kapitalist – ich komme von einer armen jüdischen Familie‘. Ständig probte ich im Geist meine Verteidigung: ‚Befragen Sie doch die Kundschaft in Viernheim –man wird Ihnen sagen können, wer ich bin. Mein Vater hat in der deutschen Armee gedient. Ich bin Deutscher. Ich habe doch Rechte‘.“
(Musikakzent)
Dr. Detlef Garbe:
Nachdem wir mit dieser kurzen eindrucksvollen Passage schon direkt ins Thema gestoßen sind, gleich meine erste Frage an Sie Herr Liebster. Viernheim, ein kleiner Ort im Odenwald. Können Sie uns erzählen, wie Sie als Kind empfunden haben, als Sie mit dem aufsteigenden braunen Terror in Kontakt kamen?
War man sich in Ihrem Elternhaus bewusst, was es bedeutete als die Nazi-Horden begonnen haben durch Deutschlands Straßen zu marschieren?
Max Liebster:
Ja, ich bin ja in Reichenbach bei Bensheim geboren, eine Stadt von 2000 Einwohnern. Und all meine Jugendzeit kann ich mich gar nicht beklagen. Ich war der einzige Jude in der Schulklasse und [da war noch] ein katholischer Junge. Alle anderen waren Protestanten. Wir hatten gar keine Schwierigkeiten. In der Stadt waren ungefähr 15 jüdische Familien. Und wir haben nie geglaubt, dass Hitler und das Nazi-System solche Früchte bringen und sechs Millionen Juden umbringen würden, und solch einen Hass in den Herzen und Gedanken der Menschen säen würden. Wo die Menschen nicht wussten, wo sie hingehen unter der Führung von Hitler. Wir hatten keine Schwierigkeiten in der Ortschaft. Mein Vater war Schuhmacher. Er hat viele Male die Schuhe für arme Leute gemacht, die sie später bezahlt haben. [Wenn unsere Familie] nicht genug Geld [hatte, war unser] Nachbar Heldmann, der ein Lebensmittelgeschäft hatte, [so nett und] hat uns immer angeschrieben. Wenn wir wieder Geld hatten, haben wir [die Schulden] bezahlt. In der ganzen Gemeinde waren keine reichen Leute. Meine Mutter war eine geborene Oppenheimer. Mein Großvater hat den Gesangverein in Reichenbach geführt und den Chor geleitet. Er war Schoche. Und wie ich die acht Jahre Schule hinter mir hatte, wurde ich zu [den] Oppenheimers, zu Verwandten nach Viernheim gebracht. Und in Viernheim war ich 10 Jahre im Geschäft von 1929 bis 1939 bis der Krieg ausgebrochen ist. Einen ‚großen Schlag‘ hat es mir in der Kristallnacht im November 1938 gegeben. Es sind alle Synagogen verbrannt wurden und viele [Juden] wurden ins Konzentrationslager gebracht … und weil es so gefährlich war, bin ich nach Pforzheim zu Freunden gegangen. Ich habe gedacht, dass mich dort niemand kennt und ich nicht verhaftet würde. Wie die Einführung im Buch es zeigt, hat die Viernheimer Polizei ganz genau gewusst, wo ich bin und sie hat dort den Antrag gestellt, damit man mich dort verhaftet. So wurde ich von der Gestapo ohne Verhandlung, ohne Gerichtsverhandlung ins Stadtgefängnis gebracht, nur weil ich als Jude geboren wurde.
(Musikakzent)
Und nach vier Monaten hat mich die SS nach Karlsruhe in einem Gefangenenzug gebracht. Und im Gefangenenzug waren auf beiden Seiten Zellen für zwei Personen. Der SS-Wärter hat die Zelle aufgeschlossen und mir einen Fußtritt gegeben: „ Du stinkender, dreckiger Jude. Du wirst niemals mehr lebendig von Sachsenhausen zurückkommen“. Das war im Januar 1940. Das ist jetzt 63 Jahre her und ich bin immer noch am Leben. Ich freue mich, dass ich heute Nachmittag hier sein darf und darüber zu erzählen. Sie können das hier sehen. Das sind Tatsachen, dass die Menschen schlimmer werden wie die Tiere, wenn keine geistige Führung ist, keine Erkenntnis. Die Ideologie von einem Mann kann Millionen Menschen mitreißen, um so etwas zu tun, worüber wir heute alle erstaunt sind.
(Musik Esther Bejarano „Mir lejbn ejbig“= Wir leben trotzdem)
Max Liebster erzählt über seine Erlebnisse im KZ Sachsenhausen:
In Sachsenhausen waren Strohsäcke auf dem Boden und für vier Leute gab es einen Strohsack. Ein Kopf da, ein Kopf da. Manche Leute sind gestorben … Jeden Morgen war hier auf der einen Seite ein Haufen Toter und auf der anderen Seite die Lebenden. Der Appell war sehr schlimm gewesen. Wenn einer gefehlt hat, mussten wir draußen [in der Kälte] stehen. Die Hände und Füße sind uns erfroren. Den Leuten sind die Ohren und Nasen abgefallen und es gab keine Pflege [Anmerkung: medizinische Versorgung]. Ich habe meinen eigenen Urin benutzt, um meine Wunde zu heilen, um den Eiter weg zu waschen, den eigenen Urin. Keine Pflege, kein Verband, nichts für Juden. Wir haben Strafsport machen müssen in den Sitzpositionen und Hände auf dem Rücken. Die haben die Leute gequält, gequält bei … schlechtem Wetter bis sie nicht mehr hüpfen konnten. Sie mussten dann rollen. Wenn sie nicht mehr rollen konnten, hat der SS(-Mann) den Stiefel ins Gesicht gestoßen … Sie wollten so viel wie möglich umbringen. Mein eigener Vater ist vor meinen Augen bei der Kälte in Sachsenhausen gestorben. Der Barackenälteste hat gesagt: „Du kannst ihm einen Dienst leisten und ihn ins Krematorium bringen“. So habe ich meinen eigenen Vater über die Schulter gelegt und ihn an den Beinen gehalten und zum Krematorium gebracht. Dort haben viele Tote gelegen. Sie haben nicht genügend Krematorien gehabt. Diejenigen, die in Sachsenhausen waren, haben gesagt, dass die Fabriken nicht genügend Krematorien fabrizieren konnten, um alle Toten zu verbrennen.
(Musik)
Dr. Detlef Garbe:
Sie haben erwähnt, dass der Schutzhaftführer als Sie nach Sachsenhausen in einer kleinen Gruppe mit 30 jüdischer Häftlinge ankamen, gesagt hat: „Die stecken wir zu den Zeugen Jehovas. Die glauben ohnehin an den gleichen Gott.“ Es ist bekannt, dass die Zeugen Jehovas einen engen Gruppenzusammenhang pflegten. Sie waren als jüdische Häftlinge erstmal Fremde, die man nicht kannte, die nach Auffassung der SS zwar an den gleichen Gott glauben, aber trotzdem waren da ja Unterschiede. Wie ist man Ihnen begegnet? Gab es Vorbehalte? Wie näherte man sich überhaupt an? Wie lernten Sie die Zeugen Jehovas kennen?
Max Liebster:
Die Zeugen Jehovas haben uns in den Baracken wie eigene Brüder empfangen. Sie haben kein Hass gezeigt. Sie haben [uns nicht wie die SS mit „Stinkjude“[ beschimpft]. Sie haben uns nicht gehasst, weil wir Juden sind. Sie haben die Juden wertgeschätzt, weil sie die Verheißungen bekommen haben.
Max Liebster berichtet weiter über das KZ Neuengamme:
Und hier im KZ Neuengamme habe ich die schlimmste Arbeit gehabt. Schubkarren schieben [beim Kaimauerkanalbau] … Wenn einer zu schwach war, konnte er die schwere Schubkarre nicht halten und ist umgefallen. Die SS hat ihn mit dem Kopf in den Schlamm gestoßen, sodass er erstickt ist. [Wir haben acht Stunden gearbeitet und erhielten] mittags nur eine Steckrübensuppe. Und damit sollten wir so schwer arbeiten. … Da war ein Zeuge Jehovas, er hat im Kaninchenstall gearbeitet. Der hat mich manchmal in den Kaninchenstall reingelassen. Ich habe mir dann Kaninchenfutter (Gemüseschalen) in die Tasche gesteckt und das hat mir geholfen auch diese schwere Zeit zu überleben. [Am Sonntag wurde die Suppe in der Baracke ausgeteilt.] Die Zeugen Jehovas haben das gerecht verteilt und Schwache haben einen Nachschlag bekommen.
Wenn eine hohe Persönlichkeit zu Besuch kam, wurden alle Baracken [mit Blumen auf dem Fensterbrettern versehen] und es wurde besseres Essen [aus]gegeben, um einen guten Eindruck zu machen.
Wir waren in „Schutzhaft“. Wir wurden „beschützt“ in dem Lager.
(Musik)
Max Liebster:
Nach zwei Jahren wurde ich nach Ausschwitz gebracht und dort mussten bei der Ankunft alle Häftlinge, [Männer, Frauen und Kinder] nackt an der SS vorbeilaufen. Und die noch etwas Kräftigeren wurden in ca. 30 verschiedene Außenlager gebracht. Ich wurde nach Buna geschickt, um die IG-Farben aufzubauen.
Detlef Garbe:
Sie haben jetzt schon einen großen Überblick über die Zeit gegeben. Ich denke, es wird besser sein, wenn Sie jetzt diesen Überblick erstmal noch fortführen, bevor wir vielleicht noch den einen oder anderen Aspekt vertiefen.
Sie haben beschrieben, dass Sie in Ausschwitz zum Arbeitseinsatz bei der IG-Farben in Monowitz beim Buna-Werk eingeteilt wurden. Wie ging es von dort weiter?
Max Liebster:
Ich muss auch erwähnen, dass nicht alle SS-[Leute] Mörder waren. Da war ein SS-[Mann] der für Mannheim verantwortlich war. Der hat mir zweimal in Buna das Leben gerettet. …Eines Tages hatte ich Durchfall gehabt. Ich konnte nicht mehr laufen. Zwei Jungs haben mich ins [Lager] reingeschleppt. Der [SS-Mann] hat das gesehen und hat gesagt: „Max, morgen früh kommst Du in mein Büro.“ Und hat er mich in die Cafeteria geschickt, um die Tische der Soldaten zu putzen. Da habe ich wieder mehr Essen [erhalten und] wieder Kraft bekommen.
In den sechs Jahren in fünf verschiedenen Lagern war ich vielleicht zehn Mal am Punkt zum Tod. Denn jeden Morgen wurden diejenigen, die nicht mehr arbeiten konnten auf Lastwagen nach Auschwitz gebracht, um vergast zu werden. Zweimal hat mir [der SS-Mann] geholfen zu überleben.
Detlef Garbe:
Wie sind Sie von Auschwitz weggekommen? Wie ging es weiter?
Max Liebster:
Im Januar 1945 sind die Russen nähergekommen. Es waren 30 KZ-Lager um Ausschwitz und man hat uns gesagt, dass wir nach Gleiwitz marschieren müssen. Es war ein ganz kalter Winter. Schneestürme. Wir haben nur die Baumwollkleider gehabt, keine Mäntel, keinen Schutz. Wir mussten vielleicht 40 km im Schneesturm laufen. Alle, die nicht mehr laufen konnten, [wurden von fünf oder sechs SS-Männern] erschossen. Es war ein Todesmarsch. Zweimal haben wir in Scheunen im Heu übernachtet, um nach Gleiwitz zu kommen. Und in Gleiwitz wurden wir im Januar 1945 dann auf offene Kohlewagen geladen. Wir sind dann durch die Tschechoslowakei nach Buchenwald gekommen. Es sind mehr Tote als Lebende angekommen. …
(Musik)
Detlef Garbe:
In Buchenwald sind Sie dann im April 1945 von den amerikanischen Soldaten befreit worden.
Können Sie sagen, wie lange sie dort geblieben sind und wie es dann weiterging?
Max Liebster:
Wir sind im Januar 1945 nach Buchenwald gekommen und da waren so viele Gefangene von den östlichen KZ-Lagern gekommen. Sie konnten keine Baracken machen. Sie haben große Kästen aufgestellt, wo sonst zwei in einem Kasten waren, haben sie 10-12 wie die Sardinen reingelegt. Typhus ist ausgebrochen. Die haben es das kleine Lager genannt in Buchenwald. Da sind mehr Leute gestorben durch den Typhus und das schlechte Essen. Und da habe ich gehört, dass Jehovas Zeugen in der Küche arbeiten … denn sie haben [nicht gelogen], nicht gestohlen. Ich war schwach. Ich konnte keine 50 l Suppe tragen, aber ich bin doch freiwillig mitgegangen, um die Suppe zu holen. Dort habe ich dann Otto Becker gefunden. In der Küche habe ich ihm erzählt, dass ich aus Reichenbach bin. Da hat er gesagt: Da ist ein [Häftling namens] Kindinger, ein Kommunist. Der ist schon 12 Jahre in Buchenwald und er hat viel zu sagen [Anmerkung: Kapo]. Der kann Dir helfen.“ Und der hat mir geholfen. Der Kindinger hat mich in seine Baracke genommen und mir wieder mehr Essen gegeben. Er hat das Essen verteilt bzw. unter seiner Verwaltung gehabt. Und so habe ich wieder Kraft bekommen. Und da musste ich jeden Tag wieder zur Arbeit ausziehen und da hat ein jüdischer Junge [namens Fritz] Heikorn mit mir zusammengearbeitet. Er hat auch von Hermann Emter aus Freiburg von der Bibel gehört. Da war ich erstaunt, dass sich ein jüdischer Junge für die Bibel interessiert. Der Kindinger hat gesagt, dass man alle Juden vernichten würde, denn die Amerikaner würden näher kommen. [Das war im] März/April 1945. Die [Juden] wurden auf Viehwaggons in den Wald gebracht, Sie mussten ihre eigenen Massengräber ausgraben. Dann wurden sie erschossen. Die nächste Gruppe musste sie wieder zudecken und ihr eigenen Grab machen. Der Kindinger hat gesagt: „Geh nicht ruff. Ich beschütze Dich.“ Da habe ich gesagt: „Ich habe einen Freund, den Heikorn, kann der nicht auch hier in der Baracke bleiben?“ Der Kindinger hat gesagt: „Ich tue meine eigenes Leben in [Gefahr bringen], wenn ich einen Juden beschütze. Das kann ich nicht machen.“ Dann habe ich gesagt: „Dann gehe ich mit dem Heikorn ruff. Mal sehen, wie das geht.“ Heikorn hatte ein paar Blätter vom Herman Enter aus der Offenbarung bekommen. Und er hat gesagt: „Ich möchte das gerne lesen, bevor wir erschossen werden.“ Wir waren hinter einem Holzhaufen [Anmerkung: vermutlich waren es präparierte Eisenbahnschienen aus Holz], den habe ich jetzt noch gefunden. Der ist jetzt noch in Buchenwald, den Rest von dem Holz, hinter dem wir versteckt waren, gibt es heute noch.
Von den Amerikanern haben wir die Maschinengewehre gehört. Die sind näher gekommen. Der Zug ist abgefahren. Die SS ist verschwunden. Dann wurden wir befreit mit 180 Jehovas Zeugen in der Baracke I.
Wir waren letztes Jahr (2002) da, um einen Gedenkstein einzuweihen. Ich war der einzige, der noch kommen konnte, um die Gedenktafel einzuweihen. Da steht drauf Apostelgeschichte 5:29: „Wir müssen Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen.“
Nach der Befreiung konvertiert Max Liebster zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas.
Nach dem Gespräch gibt es noch eine Befragung durch die Zuhörer.
Am Ende reihe ich mich noch in die Schlange, um ein Autogramm in mein Buch zu bekommen.
Glücklicherweise fährt mich ein Bekannter zurück zum Hauptbahnhof und ich muss nicht umsteigen und auch nicht so lange Wartezeiten in Kauf nehmen.
(Motorenbrummen)
Mein Zug fährt auch pünktlich ab.
„Am Gleis 10 bitte einsteigen. Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt“.
(Geräusch der rollenden Räder des Zuges)
Plötzlich bleibt der Zug aus der Strecke ohne erkennbaren Grund stehen. Das Zugpersonal bittet alle Mitreisenden den Wagen 4 zu verlassen, sonst können wir nicht mehr weiterfahren.
Endlich fahren wir weiter.
(Geräusch der rollenden Räder des Zuges)
In Göttingen komme ich 12 Minuten später an. Aber was sind schon 12 Minuten Verspätung in einem bequemen Zug, im Gegensatz zu dem was Max Liebster alles erlitten hat.
Lange klingen mir seine Worte noch in meinem Ohr: „Und nach vier Monaten hat mich die SS nach Karlsruhe in einem Gefangenenzug gebracht. Und im Gefangenenzug waren auf beiden Seiten Zellen für zwei Personen. Der SS-Wärter hat die Zelle aufgeschlossen und mir einen Fußtritt gegeben: „ Du stinkender, dreckiger Jude. Du wirst niemals mehr lebendig von Sachsenhausen zurückkommen“.
(Motorengeräusch)
© Ingeborg Lüdtke
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(Die Sendung wurde am 2.12.2003 im StadtStadio Göttingen ausgestrahlt.)
Max Liebster ist am 28. Mai 2008 gestorben.
Bilder zum KZ Neuengamme: mit freundlicher Genehmigung der KZ Gedenkstätte Neuengamme
Text aus Liebster, Hoffnungsstrahl: mit freundlicher Genehmigung der Arnold-Liebster-Stiftung
Weiterführende Links:
http://www.alst.org/pages-de/stifter/max-liebster/max-liebster-ableben.html
Weiterführende Literatur zum KZ Neuengamme:
Publikationen der KZ Gedenkstätte Neuengamme Stand Februar 2015