Comics im Geschichtsunterricht und in der Gedenkstättenarbeit?

Zeitzeugen sterben. Immer weniger Zeitzeugen stehen für Interviews zur Verfügung.

Historiker und Gedenkstätten suchen nach neuen Formen, den nachfolgenden Generationen die Geschichte des Nationalsozialismus und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit näher zu bringen. Eine Form der Vermittlung sind Comics.

Himmler in MoringenDer Arbeitskreis Pädagogik der KZ Gedenkstätte Moringen bei Göttingen startete 2008 das Pilotprojekt „Comicwerkstatt“. Der Arbeitskreis wurde von dem Historiker Dr. René Mounajed betreut. Er hat seine Dissertation zum Thema „Comic und Geschichte geschrieben.

In einem Interview beantwortete Dr. René Mounajed viele Fragen zu Comics im Geschichtsunterricht und in der Gedenkstättenarbeit:

Was ist der Unterschied zwischen einem Comic, Graphic Novels  und einem Cartoon?

Ein Comic ist eine Erzählung, die aus mindestens 2 Bildern bestehen muss. Die Bilder sind in der Regel gezeichnet und mit einem Text versehen. Mit Comics wird meist etwas Komisches, Lustiges und Drolliges verbunden, weil die ersten amerikanischen Comics in den Zeitungen so ausgerichtet waren. Ein Comic muss nicht immer lustig sein.

Das  Längenformat umfasst 64 Seiten im Album. „Graphic Novels“ hingegen sind abgeschlossene Comicromane, für die es keine Seitenzahlbegrenzung gibt.

Cartoons sind in der Regel immer lustig und sie haben meistens ein aktuelles politisches Ereignis im Hinterkopf. Ein Cartoon ist meistens ein Einzelbild, er kann aber ein Doppelbild, eine Sequenz sein.

Seit wann gibt es Comics?

Die Forscher streiten sich über die Frage, wann der erste Comic entwickelt wurde. Es ist eine ganz große Forschungsfrage.

Einige Forscher sehen in dem „Teppich von Bayeux“  bereits einen Comic. Andere beziehen die ägyptischen Hieroglyphen, antike Malereien und mittelalterliche Spruch-, Heiligen- und biblische Darstellungen mit ein. Vorformen könnten auch bereits mehrdimensionale Geschichtsbilder sein, die eine Sequenz erzählen oder biblische Geschichten im 15. Jahrhundert, sowie Holzstiche oder Flugschriften.

Für den Comic ist nicht die Sprechblase entscheidend, sondern die „enge Bildfolge“. Unter einer engen Bildfolge versteht man eine Folge von Szenen, die innerhalb eines kurzen Zeitraumes spielen.

Wilhelm Busch wird als Urvater der Comics gesehen, obwohl er selbst keine Comics gezeichnet hat. Aber seine Zeichnungen  von „Max und Moritz“ sollen dem US-amerikanischen Verleger Randolph Hearst zur ersten Comic-Strip-Serie „The Katzenjammer Kids“  als Vorlage gedient haben.

Comics mit geschichtlichem Hintergrund sind nicht neu, welche frühen bekannten Comics gibt es?

Der erste Comic, der sich mit Geschichte befasst ist „Prinz Eisenherz von Hal Foster aus den 1950er Jahren. Der Comic beschäftigt sich zwar mit dem Mittelalter, aber er nimmt auch viele neuzeitliche und gegenwärtige moralische und Verhaltensvorstellungen mit in den Comic hinein.  In der Comicforschung besteht die These, dass durch „Prinz Eisenherz“ Jugendliche in den 1960/70er Jahren für  Geschichte interessiert worden sind.

Allerdings gibt er nicht unbedingt die Geschichte des Mittelalters wieder. Es gab auch von dem Zeichner Hansrudi Wäscher weitere Rittercomics wie „Sigurd“ und „Falk“.

Es gab auch schon früh sogenannte pädagogische didaktische Produkte z.B. die „Abenteuer der Weltgeschichte“. Hier wurde der Versuch unternommen Geschichte historisch triftig zu erzählen.

Comics über den Nationalsozialismus

Im Moment wählen sehr viele Künstler und Künstlerinnen die Epoche des Nationalsozialismus für ihre Geschichten aus.Teilweise sind das auch eigene Lebensgeschichten oder die der Eltern oder der Großeltern. Aber es wird auch etwas aus dem Nationalsozialismus erzählt. In seinem Comic „Auschwitz“  (2005) versucht der französische Künstler Pascal Croci das Grauen von Ausschwitz in Bilder historisch triftig darzustellen. Der Niederländer Eric Heuvel hat die Comics „Die Entdeckung“ und die „Suche“ gezeichnet. „Die Suche“ zeigt das Schicksal einer jüdischen Familie in der NS-Zeit. Die Entdeckung“ thematisiert anhand der Familie des niederländischen Jungens Jeroen die NS-Besatzung in den Niederlanden.

„Hitler“ von Dieter Kalenbach (Zeichnung) und  Friedemann Bedürftig (Text) wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Lesen gefördert, aber später hatte man Bedenken und nahm den zweibändigen Comic wieder vom Markt.

Kann man mit Comics tatsächlich die Gräuel Nationalsozialismus darstellen?

Es handelt sich um ein Kunstwerk und Kunst muss nicht historisch triftig sein, aber sie kann. Man kann die Künstler nicht verpflichten, sich mit Quellen und historischen Darstellungen und Zeitzeugenberichten auseinander zusetzen. Aber es gibt eine große Gruppe von Künstlern, die versucht haben ein historisches Kunstwerk zu erarbeiten, mit der Intention Geschichte aufarbeiten. Ich sage bewusst aufzubereiten nicht darstellen. Geschichte darstellen kann keiner, auch nicht der beste Comickünstler, auch nicht, wenn er einen Historiker im Hintergrund hat.

Ein Comic zeigt nur die Vorstellung, die ein historisch interessierter Mensch zu einem historischen Sachverhalt entwickelt hat.

In dem Comic „Auschwitz“ erkennt man die Vorstellungen, die sich Pascal Croci von dem Ort Auschwitz gemacht hat. Seine Motivation sich mit dem Thema auseinander zu setzten, ist nicht erkennbar. Er beschäftigt sich aus freien Stücken mit dieser Thematik und man erkennt auch, wie er seine geschichtliche Recherche betrieben hat. Er geht von Zeitzeugen aus. Croci hat viel gelesen. Er ist emotional aufgewühlt. Ihn lässt Auschwitz nicht kalt. Er findet keine Worte des Happy Ends. Für ihn ist das ein wirklich grauenhafter Ort. Die Täter und Täterinnen werden dämonenhaft dargestellt. Sie bleiben zwar Menschen, aber sie entwickeln Fratzen. Sie bleiben auch noch im Rahmen realistischer Darstellungen, aber Croci zeichnet ein düsteres Bild von Ausschwitz und den Tätern.

Allerdings sind die der neueren geschichtlichen Forschungen unberücksichtigt. Auschwitz war für die Täter kein so düsterer Ort, obwohl es für sie ein Arbeitsplatz gewesen ist, wo als „lebensunwert“ bezeichnete Menschen umgebracht wurden. Viele Täter haben dies auf die leichtere Schulter genommen.  Eric Heuvel, dem z.B. Wolf Kaiser vom Haus der Wannseekonferenz kritisch über die Schulter geschaut hat, sieht die Diskrepanz und zeigt in seinem Comic „Die Suche“, wie ein Kindergeburtstag von einem hohen SS-Offizier gefeiert wird. Die Familie wohnt gleich neben Auschwitz. Während des Dienstes treffen die Täter auch Absprachen wie: „Gehen wir heute noch einen Kaffee trinken nach  Feierabend?“ Es ist ein guter Comic und das Grauen wird auch deutlich.

Könnte man nicht diese historischen Comics mit Fußnoten über den historischen Hintergrund versehen?

Ja, so etwas gibt es auch bei einem Comic zur römischen Antike und zwar heißt der Comic „Prisca und Silvanus“.

Außerdem ist ein Anhang enthalten, dort findet man Informationen zu den abgebildeten Orten und Gegenständen.

Gibt es Reaktionen von Comic-Lesern?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da es kaum empirische Werte gibt. Schüler und Schülerinnen von heute kennen Comics kaum, schon gar nicht solche mit historischem Hintergrund jenseits von „Asterix“. In den östlichen Bundesländern kennen die meisten auch noch „Mosaik“, weil das ein populärer Comic zu DDR-Zeiten gewesen ist. Er erscheint noch heute, aber er ist in den westlichen Bundesländern noch nicht so ganz angekommen. „Maus“ von Art Spiegelman ist noch recht bekannt bei den Älteren der Lehrer, aber von den Schülern kennt ihn im Moment kaum jemand. Obwohl es eine Welle der „Graphic Novels“, der Comicromane mit geschichtlichem Hintergrund gibt, sind diese bei Lehrern und Schülern wenig bekannt.

Wenn die Schüler und Schülerinnen aber mit dem Medium Comics arbeiten, macht es ihnen Spaß. Allerdings kommen sie nicht von selbst darauf, dass diese Comics nicht die historische Wirklichkeit zeigen, sondern auch nur die Vorstellung von Künstlerinnen und Künstlern wiedergeben. Man muss ihnen klarmachen, dass selbst der objektivste und sachlichste Historiker immer nur eine subjektive Geschichte erzählt und dass sie auch sehr von seinem eigenen Standpunkt abhängt. Auf jeden Fall ist erkennbar: Geschichte ist ein Konstrukt. Das ist auch die große Chance, die ein Comic leisten  kann.

War dies dann Ihr Grund, weshalb Sie diese Comic-Werkstatt gegründet haben?

Ja, richtig, aber wir sind vor allem von dem Gedanken getrieben worden, dass die Gedenkstättenpädagogik neue Wege finden muss, um junge Menschen für diese Themen zu gewinnen.

Die Gedenkstättenlandschaft befindet sich im Wandel. Das liegt an 2 Punkten: Zum einen sterben immer mehr Zeitzeugen und  zum anderen bekommen wir neue Gedenkstätten: z. B. die Gedenkstätten der DDR-Diktatur.

Schüler finden einen anderen Zugang zum Thema Nationalsozialismus, wenn die Zeitzeugen persönlich im Raum sind und sie sich nicht nur Filme mit Interviews der Zeitzeugen ansehen können.

Gedenkstätten mit lebenden Zeitzeugen sind durchaus als Konkurrenz zu sehen. Die Gedenkstättenpädagogik ändert sich. Das muss man nicht nur negativ sehen, sondern auch begrüßen. Es stellt sich die Frage:  „Was machen wir jetzt daraus?“. Und da ist der einfache Punkt: Wir müssen, wenn wir uns mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, den Schülern klar machen, dass auch heute nicht alles gut ist.

Die Geschichte geht weiter und auch in unserer heutigen Zeit besteht durchaus noch immer die Gefahr von rassischen und ausgrenzenden Tendenzen.

Müssten neue Comics geschrieben werden?

Ja, aber man muss sich auch überlegen, wie man die Schüler und Schülerinnen dazu bewegen kann, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. Meiner Meinung nach machen solche Formate Sinn, wo die Schüler und Schülerinnen selbst tätig werden müssen. Am besten geschieht dies mit künstlerischen Produkten. Es müssen nicht nur Comics sein, aber es können Comics sein. Denkbar wären auch die Produktion eines Theaterstücks oder eines Films. Hier kann handlungsorientiert gearbeitet werden.

Da die künstlerische Version ein bisschen mehr Freiheit als alle Dokumentationsformate bietet, haben wir uns dafür entschieden das einmal mit der Comic-Werkstatt auszuprobieren.

Wie haben Sie Ihre Idee eine Comic-Werkstatt zu gründen in die Tat umgesetzt?

Wir haben eine solche Comic-Werkstatt für Schüler und Schülerinnen in ganz Niedersachsen ausgeschrieben. Statt dem riesigen Andrang, den wir erwartet haben, haben nur wenige Schüler und Schülerinnen ihre Arbeiten eingesandt.

Es gab für das Einreichen der Arbeit ein doppeltes Profil zu erfüllen:  1. Man sollte gerne zeichnen und 2. Man sollte sich für Geschichte interessieren und insbesondere für die Geschichte des Nationalsozialismus. Wir hatten vier Bewerbungen. Nach dem wir die Finanzierung geklärt hatten, haben wir mit der Arbeit begonnen.

Die Ergebnisse, die vorliegen sind wirklich Klasse. Die Schüler und Schülerinnen haben sich sehr mit der Geschichte auseinander gesetzt. Sie haben aber auch künstlerisch Enormes geleistet. Es sind wirklich Talente gefunden worden. Wir haben ja nicht nur historisch gearbeitet, sondern wir konnten die Comic-Künstlerin Elke Steiner gewinnen, die die künstlerische Seite begleitet hat.

Zwei der Jugendlichen haben auch noch an einem Wettbewerb bei Zivilcourage vereint“ teilgenommen und eine Studienreise nach Griechenland gewonnen. Wir selbst sind auch begeistert und können uns vorstellen,  diese Comics in geeigneter Weise als Schulmaterial zu veröffentlichen.

Gab es Nachfragen von Lehrern und Lehrerinnen zur Comic-Werkstatt und wie waren die Reaktionen?

Ja, es gab nach Fragen und die Reaktionen waren alle positiv. Offen und skeptisch.

Was kommt dann nach der Geschichtsdarstellung in Form von Comics?

Da gibt es noch weitere Medien, die wir noch nicht untersucht haben. Ganz naheliegend ist das Computerspiel gerade zum Thema Nationalsozialismus. Allerdings muss man bei den Spielen vorsichtig sein, da es auch viele kriegsverherrlichende Spiele gibt.

Die Frage ist: Was können wir selbst tun, damit diese Geschichte sich nicht in anderer Form wiederholt? Wir können nur durch gute Präventionsmaßnahmen weiter kommen. Dazu müssen wir aber auf die Jugendlichen zugehen. Das bedeutet, dass die Gedenkstättenarbeit nicht nur in der Gedenkstätte stattfindet, sondern, dass die Gedenkstätte auch in die Schulen geht z.B. in Form von eines Theaterstücks [Anm.: die KZ-Gedenkstätte Moringen hat gemeinsam mit der Theatergruppe „Stille Hunde“ das Theaterstück „Die Besserung“ https://www.radio-uebrigens.de/?p=179 entwickelt. Dies kann für die Schule gebucht werden.]. Meiner Meinung nach sollte es eine wichtige Aufgabe der Gedenkstätten sein, sich mehr mit dem Aspekt der Menschenrechtserziehung auseinandersetzen. Aus vielen Gesprächen mit Zeitzeugen weiß ich, dass sie sich wünschen, dass in den Gedenkstätten auch auf aktuelle Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht wird.

Kommen wir zum Schluss noch einmal zu den Comics oder Graphic Novels. Gibt es auch einen Comic über das KZ Moringen?

Ja, der Comic ist von Gianni Carino und heißt „Oltre la Notte“. Er behandelt das Schicksal von einem jungen Häftling, der aus Italien als Widerstandkämpfer nach Werkhaus MoringenMoringen gelangt ist und überlebt  hat. Der Künstler ist mehrfach in Moringen gewesen und hat sich die Örtlichkeiten angesehen. Er hat nach Quellen gesucht und sich Darstellungswerke angeschaut.

Wir haben für die Gedenkstätte eine Arbeitsübersetzung in Deutsche angefertigt. In dem Comic sind sehr gute Sequenzen drin, wie  z.B. über die Ankunftssituation in Moringen. Er zeigt auch, wie man zum Häftling wird. Gianni Carino hat sich auch sehr schön mit den Örtlichkeiten hier auseinander gesetzt. Aber  von einer Gesamtveröffentlichung dieses Comics haben wir abgesehen, weil dafür die Handlung im KZ Moringen zu wenig Raum innehat. Die Liebesgeschichte steht zu sehr im Vordergrund. Moringen ist nur ein Unterkapitel. Wir wollen aber 1-2 Sequenzen daraus für Schüler veröffentlichen.

© Ingeborg Lüdtke [Zusammenfassung des Interviews]

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 Gesendet am 27.1.2009 im StadtRadio Göttingen

Cartoon: Der Dialog soll so zwischen Heinrich Himmler und Anni Pröll im Frauen-KZ Moringen stattgefunden haben.

Literaturhinweis:

Mounajed, René
Geschichte in Sequenzen
Über den Einsatz von Geschichtscomics im Geschichtsunterricht
Peter Lang Verlag, 2009

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