Gedenkstätte Buchenwald, Weimar, 9. Mai 2002, 14 Uhr
„Warum denn in die Ferne schweifen, sieh´ das Gute liegt so nah.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
(Musikakzent)
„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!“
(Musikakzent)
Welches der beiden Zitate würden Sie eher mit der Stadt Weimar in Verbindung bringen?
2 unterschiedliche Aussagen.
Beide Aussagen sind eng mit der thüringischen Stadt Weimar und ihrem Umland verbunden.
Ich möchte Sie einladen, mich während meinem kurzen Besuch in Weimar und in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald zu begleiten.
Es ist der 9. Mai 2002.
(Motorengeräusch)
Wir kommen morgens auf dem Marktplatz in Weimar an und werden dort von unserer Stadtführerin erwartet.
(Geräusch: Menschenmenge)
Da heute der Blumenmarkt ist, führt uns die Stadtführerin schnell in eine ruhigere Ecke.
Wir lassen uns von ihr in die Welt der Dichter, Denker und Fürsten von Weimar entführen.
Wir können es fast spüren: Weimar als ehemaliger geistiger Mittelpunkt Europas.
Wir betreten nun den Goethepark und werfen einen Blick auf sein Gartenhaus.
Hier können wir Johann Wolfgang von Goethes Worte verstehen:
„Warum denn in die Ferne schweifen? Sieh das Gute liegt so nah.“
Liegt das Gute aber immer so nah?
Wir verlassen nun Weimar und fahren Richtung Ettersberg nach Buchenwald.
(Musik)
(Motorengeräusche)
Wir biegen links in die Zufahrtsstraße zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald ab.
Rechts an der Straße steht ein Schild mit der Aufschrift „Blutstraße“.
Die lange Straße durch eine schöne Landschaft wurde 1939 von den Häftlingen gebaut.
Teilweise ist die Straße noch original erhalten.
Im Geist hören wir das Hämmern der Häftlinge beim Straßenbau.
(Geräusch Straßenbau)
Mir fällt der Liedtext von Gunter Gabriel ein:
„Getränkt mit unserm Schweiß ist jeder Meter Gleis…“ [Anm:Intercity Linie 4]
Nur Schweiß?
Wie viele der Häftlinge haben wohl bei dem Bau der Straße und 1943 bei dem Bau der Bahnstrecke ihr Leben verloren?
Uns beschleicht ein sehr beklemmendes Gefühl.
Bevor wir zur eigentlichen Veranstaltung mit einem ehemaligen Inhaftierten in den Kinosaal gehen, sehen wir uns noch etwas auf dem Platz der Gedenkstätte Buchenwald um.
Über 250 000 Menschen waren hier inhaftiert und mehr als 50 000 Menschen starben.
Wir treten durch ein eisernes Tor mit der Aufschrift: Jedem das Seine.
Welch eine Ironie!
(Windgeräusch)
Vor uns liegt eine große öde Fläche mit nur wenigen noch erhaltenen Gebäuden.
Lagerbaracken gibt es nicht mehr. Ihre Standorte sind nun durch Steine gekennzeichnet.
Wir gehen noch kurz in das gut erhaltene Krematorium mit der Verbrennungsanlage.
Hier ist wieder das beklemmende Gefühl!
Wie viele Menschen wurden hier wohl verbrannt?
Wer hat wohl die Verbrennungsanlage bedient?
Warum dieser Wahnsinn?
(Musik)
Wir verlassen das ehemalige Häftlingslager und gehen in den Kinosaal.
Mit uns sind ca. 200 Personen anwesend um der Feier für die Gedenksteinenthüllung am heutigen 9.Mai 2002 beizuwohnen.
Schalten wir uns einmal live in den Kinosaal.
Der stellvertretende Direktor der Gedenkstätte Rikola-Gunnar Lüttgenau erklärt den Grund der heutigen Veranstaltung:
Heute ist ein Tag, an dem etwas geschieht, das selbstverständlich sein sollte, aber es leider bisher nicht gewesen ist. Diese Gedenkstätte, wie Sie wissen, ist über 40 Jahre alt und bis heute hat es gedauert, in ihr ein Zeichen zur Erinnerung an die Zeugen Jehovas zu setzen. Sie, die bereits zu den ersten Häftlingen des KZ-Buchenwald gehörten und es bis zu seiner Befreiung, die hier auch Max Liebster vor über 57 Jahren erlebte, bleiben sollten, waren in den Ausstellungen der Gedenkstätte bis 1990 mit keinem Wort erwähnt.
Weshalb wurden die Zeugen Jehovas bisher nicht erwähnt?
Ihr Schicksal fügte sich so gar nicht in die vorgegebenen Erinnerungsschablonen der DDR, passte so gar nicht zum Kommunistischen Führungsanspruch, der sich auch immer erinnerten Antifaschismus formulierte.
Der Gedenkstein zu dem wir uns gleich im ehemaligen Block 45 im Durchgangsblock des KZ Buchenwald begeben werden, ist auch ein Zeichen dafür, dass in der heutigen Gesellschaft das Schicksal der Zeugen Jehovas gesehen wird und Anerkennung findet.
Es ist nicht viel, denn wie gesagt, mit dem heutigen Tage geschieht etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber es dennoch ein Zeichen für die gemeinsame Achtung des Lebens. Eine Achtung, die auch eine Aufgabe ist, da sie bewahrt werden muss, diese Achtung vor dem Leben. Insofern ist sie überhaupt nicht selbstverständlich. Es ist gut, dass der Gedenkstein uns an diese gemeinsame Aufgabe erinnern wird.
(Musik)
Walter Köbe, der [Anm.: damalige] Leiter des Informationsbüros der Zeugen Jehovas sagte einführend:
Beim Ausmarsch der Häftlingskolonnen aus dem Lager Buchenwald wurde offizielle das „Buchenwald-Lied“ gesungen, dessen Refrain lautet:
„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, wie du mein Schicksal bist. Wer dich verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist.“
Zahllose Häftlinge haben die ‚wundervolle Freiheit’ nicht mehr erleben dürfen, darunter mindestens 38 Zeugen Jehovas, die ihr Leben in Buchenwald oder in einem Außenkommando dieses Lagers einbüßten.
Die Überlebenden haben das Grauen des Lagers niemals vergessen und ein Leben lang in der einen oder anderen Weise darunter gelitten – doch meist nicht oder selten darüber gesprochen.
Walter Köbe nennt die Zahlen der inhaftierten Zeugen Jehovas:
Daher ist heute bekannt, dass im Durchschnitt zwischen 300 und 450 Zeugen Jehovas in Buchenwald inhaftiert waren. Der Höchststand betrug 477 Personen. Das war am 16. Dezember 1938. Wahrscheinlich waren insgesamt 800 „Bibelforscher“ oder mehr während des Bestehens des Lagers zwischen 1937-1945 inhaftiert.
Welche besondere Behandlung erfuhren Zeugen Jehovas in Buchenwald?
Als Folge der Widerständigkeit der „Bibelforscher“ behandelte die SS sie mit besonderer Härte und Brutalität. Neu ankommende Zeugen Jehovas kamen sofort in die berüchtigte „Strafkompanie“, die seit August 1937 bestand. Sie mussten dort die schwersten und schmutzigsten Arbeiten verrichten, die auf 10 bis 12 Stunden täglich und auf den Sonntag ausgedehnt, und genossen keine Vergünstigungen wie andere Häftlinge.
Die SS hielt die Zeugen zudem in speziellen Baracken innerhalb des Lagers hinter Stacheldraht „isoliert“ und erteilte ihnen Briefverbot.
Später durften sie nur einmal im Monat nicht mehr als 25 Worte an Ihre Angehörigen richten.
(Musik)
Nun folgte das Zeitzeugengespräch mit Max Liebster.
Johannes Wrobel vom Geschichtsarchiv [Anm: bis Ende 2009] in Selters erzählt kurz die Vorgeschichte:
Herr Liebster, bevor wir den großen gedanklichen Sprung zur ihrer Haft in Buchenwald machen, erlauben Sie mir bitte folgende Anmerkung: Sie wurden am 15. Februar 1915 in Reichenbach/Odenwald als Kind jüdischer Eltern geboren, was zu ihrer Verschleppung in nationalsozialistische Konzentrationslager führte. Mit , dann im Frankfurter Gefängnis und auch bis zur Einlieferung in das KL Sachsenhausen. Später hatten sie in den Lagern Neuengamme, Auschwitz und Buna weitere Kontakte zu Zeugen Jehovas.
Max Liebster berichtet über seine Ankunft und die schlimmen Zustände in Buchenwald:
Nach einem furchtbaren Transport von Auschwitz Buna, wie die Russen näher gekommen sind, wollten sie alle Gefangenen innerhalb Deutschlands transportieren. Auf offene Kohlewagen im Januar 1945 wurden wir in Gleiwitz aufgeladen. [Wir fuhren] über Prag … und nur jeden zweiten oder dritten Tag [bekamen wir et]was zu Essen, [ei]ne Suppe. Wir sind hier angekommen. Es sind mehr Tote angekommen als Lebendige. Wir waren sehr ausgehungert, sehr schwach. Und der Empfang war furchtbar hier in Buchenwald im Januar 1945. Die jüdischen Häftlinge wurden alle hier ins kleine Lager hereingezwängt. Es wurden zweimal so viele, manchmal dreimal so viele [Häftlinge, wie möglich]in den Bettkasten reingezwungen. [Wir lagen wie die Sardinen.]Ein Kopf [lag] nach der einen Seite [hin], der andere Kopf nach der anderen Seite. Manchmal ist man auch wach geworden und da waren Tote gewesen. Und bei jedem Appell wurden auf einer Seite der Baracken die Toten [gelegt] und auf der anderen Seite[standen] die Lebenden. Zweimal am Tag war Appell. Und wir mussten draußen stehen in der Kälte, ich habe immer noch Frostnarben an den Händen und an den Füßen. Das ist noch von dieser Zeit. Und da hab ich gesehen, dass es unmöglich ist, dort in dem kleinen Lager zu überleben. Jeden Tag, sind die Leute gestorben wie die Mücken. … Jetzt hier in Buchenwald bin ich eines Tages [mitgegangen], die Suppe zu holen. Ich war aber sehr schwach, ich konnte keinen 50 Liter Suppenkessel tragen. [Anm: hat er sich freiwillig gemeldet, mit anderen den Suppenkessel vom Hauptlager ins „Kleine Lager“ zu tragen] Die Suppe war mehr Wasser wie Steckrüben oder Kartoffeln. Fleischrationen hat man kaum gefunden. Und bin ich doch hingegangen und da war Otto Becker und da hab’ ich ihn erzählt, dass ich mit Zeugen Jehovas in Neuengamme zusammen gelebt hab’, wo Ernst Wauer mir viel von der Bibel erzählt hat. Dann hat er gefragt : „Wo kommst du her?“ Ich habe ihm gesagt: „Ich bin von Reichenbach, im Odenwald [bin ich] geboren.“ Da hat er gesagt: „Da ist ein Kommunist [aus Reichenbach], der [Kapo] Kindinger. Der ist Blockältester, der hat schon was zu sagen. Der [ist schon] zwölf Jahre im KZ.“ Er hat mich [zu ihm] hingebracht und der [Kapo Kindinger] hat mich wirklich aus dem „Sterbelager“, dem kleinen Lager herausgebracht und mir mehr Essen gegeben, denn er hat das Essen verteilt. Und da konnte ich auch einen anderen im Sterben liegenden jüdischen Jungen, Fritz Heikorn von meiner Ration geben, so dass er auch wieder Kraft bekommen hat. Er konnte schon kaum mehr laufen.
Dem Hungertod war Max Liebster zwar entgangen, aber es drohte ihm als Juden eine andere Gefahr.
Und eines Tages hat der Kindiger mir gesagt: „Die wollen alle Juden vernichten, bevor die Amerikaner das Lager übernehmen.“ Sie haben sie oben am Bahnhof in Viehwagen aufgeladen, mit Gewalt raufgejagt und dort mussten sie im Wald ihre eigenen Massengräber graben. Sie wurden mit Maschinengewehren erschossen. Die nächste Gruppe musste sie begraben und dann die nächste Gruppe musste daneben ihre eigenen Massengräber graben. Und dort musste ich arbeiten gehen. Da habe ich den Fritz Heikorn getroffen, der hat vom Herrmann Emter auch eine biblische Erkenntnis bekommen; und dann hab ich den Kindinger gefragt, ob er auch meinen Freund Fritz behalten kann. Er wollte nicht, dass ich rauf gehe zum Bahnhof. „Ich tu dich verstecken“, weil ich von derselben Ortschaft im Odenwald war. Er hat gesagt: „Ich kann das nicht machen, denn ich würde mein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Ich kann dich behalten, aber keinen anderen.“ So hab ich gedacht, ich gehe doch rauf an den Bahnhof mit dem Fritz. Ich habe noch ein paar Blätter von der Offenbarung gehabt, die wollten wir noch lesen, bevor wir erschossen werden sollten. Und da haben wir einen Holzhaufen [Schwellen]… gesehen, den ich auch 50 Jahre später wiedergefunden habe. [Das war] 1995, wo wir den „Standhaft-Film“ hier aufgenommen haben. Und dort haben wir die Maschinengewehre von den amerikanischen Soldaten gehört. Der Zug ist weggefahren, die SS ist verschwunden. Da wurde angesagt, Jehovas Zeugen wären die letzten, die von dem Lager transportiert wurden. Sie können sich alle zusammenfinden in Baracke Nummer 1. Wie es dunkel geworden ist, sind wir ganz leise dort hingegangen, da waren 180 Zeugen Jehovas dort.
Über die Befreiung berichtet er:
Wir konnten es kaum glauben, dass die Stunde der Freiheit gekommen ist. Und von dort aus wurden wir noch gepflegt bei den amerikanischen Soldaten, ich habe Gelenkrheumatismus gehabt und wurde gepflegt in den medizinischen Baracken von den amerikanischen Soldaten. Sie haben uns Reis in Milch gekocht, um die Magenwände wieder aufzubauen und wieder in einen besseren Zustand zu kommen.
Was hat ihn besonders beeindruckt?
Auf mich hat es einen großen Eindruck gemacht hat, dass alle Leute von Weimar gezwungen wurden, rauf zu[m Ettersberg zu] gehen, um durch das Lager durchzugehen und die Haufen, die toten Körper zu sehen, die dort vor dem Krematorium auf das Verbrennen gewartet haben. Mein eigener Vater wurde in Sachsenhausen im Frühjahr 1940 verbrannt. Die Leute [aus Weimar] mussten alle durch [das Lager] gehen, andernfalls hätten sie kein Brot bekommen. So war die Befreiung sehr beeindruckend, wir waren wie Träumende. Ich kann es heute noch nicht glauben, dass ich noch am Leben bin. Es sind 50 Jahre vergangen, und ich bin sehr froh, dass ich darüber Zeugnis geben kann. Denn was geschehen ist in der Vergangenheit und soll zur Lehre geschehen für die Zukunft, dass die Leute ein besseres Gewissen haben und „Nein“ sagen können, wie Jehovas Zeugen,
(Musik)
Wie ging das Leben der Opfer nach der Befreiung weiter?
Wie kann man das Erlebte verarbeiten?
Hierzu Simone Arnold-Liebster. Sie ist die Frau von Max Liebster:
Ihre Eltern waren im KZ und sie wurde als Kind in ein Erziehungsheim gebracht.
Wenn man aus einer Hölle zurückkommt, braucht man viel Zeit, um wieder normale Reaktionen zu haben. Es kommt dann auch darauf an, welchen Schaden man körperlich davon getragen hat. Was meinen Vater anbetrifft, er wurde vollständig taub geschlagen von einem SS, der ihm den Kopf zertreten hat, in Ebensee, und meine Mutter lag auch im Sterben in Gaggenau. Sie sind beide ganz schwach zurück gekommen. Ich kam von der Erziehungsanstalt. In dieser Erziehungsanstalt waren Kinder zwischen 6-14 Jahren und [wir] standen unter Sprechverbot. Wir durften überhaupt nicht untereinander reden. Man kann sich [das so] vorstellen: Man lebt ohne zu lesen, ohne zu spielen, ohne zu reden, also[es gibt] keine Kommunikation, das ist ja ein Abbruch von dem regelrechten Leben. Das ist nicht einfach zu verkraften, wenn man wieder zusammen kommt. Man ist die gleiche Familie, zusammengestellt von drei Fremden. Wir mussten wieder lernen, miteinander zu leben. Die Reaktionen hatten sich vollständig geändert. Ich war vorher ein fröhliches Kind und war jetzt ein stummes geworden. Vorher hatte ich Lebenslust und nachher habe ich nur noch auf Befehl gearbeitet, also hatte ich keine Initiative mehr. Mein Vater konnte nicht mehr sein tägliches Brot verdienen und das hat ihn schwermütig gemacht und Mutter hat auch viel zu tun gehabt mit dem Herzen. Also es war schwierig. Was uns dann wieder als eine Familie zusammengebracht hat, war die geistige Tätigkeit, dieselbe, die uns aufrecht gehalten hatte durch diese Hölle. Das Gleiche hat uns auch wieder zusammen gebracht, also das Bibellesen, von der Bibel zu sprechen, mit anderen unser Bibellesen zu teilen, das hat uns dann wieder zurückgebracht.
Kann man mit diesen Erfahrungen eine Ehe eingehen?
Simone Arnold-Liebster berichtet über ihre anfänglichen Bedenken Max kennen zu lernen:
Als ich dann in New York einen jungen Burschen Namens Max gesehen habe – und man mir gesagt hatte, warum da eine große Gruppe zusammen ist und [dazwischen war eine] Höhle. – Ich habe nichts mehr gesehen, denn die Amerikaner sind groß und Max ist klein – haben sie [zu]gesagt: „Wir wollen dir jetzt jemanden aus Deutschland vorstellen.“ Ich habe gesagt: “Wo ist er?“ „Ja, der ist dort in der Mitte, der erzählt gerade von seinen Gefühlen über sein Leben im Lager.“ Da habe ich gesagt,: „Ich will ihn nicht kennen lernen. Ich will ihn nicht sehen, das geht mich nichts an.“ Das war im Jahr 1950. Ich war noch nicht bereit, mit jemandem zu sprechen, der im gleichen Zustand war wie ich. Ich wollte weg von dieser Sache.
(Musikakzent)
Aber dann mit der Zeit, hat sich etwas in mir geändert und ich habe [nach]gedacht. Ich habe ihn aus der Entfernung liebgewonnen. Seine Freunde haben so gut von ihm gesprochen. Das sollte ich jetzt nicht sagen, denn er sitzt ja neben mir? [alles lacht] Und irgendwie hat sich dann mein Herz zu ihm geneigt und dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich eventuell die Person sein könnte, die ihn am besten verstehen würde, weil er ja auch sechs Jahre hindurch gelitten hat. Und ich wusste ganz genau, wie er fühlte, ganz ohne zu reden. Ich wollte ja selber nicht reden und er brauchte auch nicht zu mir reden. Wir haben uns verstanden. Also mit jemandem zusammen leben, wenn man den gleichen Werdegang durchgemacht hat, gibt schon etliches vor.
Wie kann man als Ehepaar sich gegenseitig helfen, die Ängste zu meistern?
Simone Arnold-Liebster liest hierzu eine Passage aus ihrem Buch „Allein vor dem Löwen“:
Dann heißt es hier [Anm: Zitat aus Simone Arnold Liebster, Allein vor dem Löwen]: „Unser gemeinsamer Lebensweg begann im September 1956. Wir hatten die gleichen Ziele, Interessen, den gleichen Lebensstil, eine ähnliche Vergangenheit, gleiche Vorlieben und Abneigungen und fühlten uns schon damals und erst recht jetzt wie Zwillinge. Über die vielen Jahre entwickelte sich eine starke Bindung. Ohne jemals unsere privaten „Fensterläden“ vollständig öffnen zu müssen, halfen wir uns gegenseitig – und tun es immer noch –, gelegentliche angstvolle Momente zu überwinden. Wenn es galt, eine neue Situation zu meistern, kam es schon einmal vor, dass er oder ich in Panik geriet. Im tiefsten Innern stiegen dann Gefühle auf, die uns suggerieren wollten, dass wir wertlos, unfähig und schwach seien.“ Ich möchte da noch mal sagen, das ist ein schweres Problem, psychisches Problem, das viele Leute, die so unter Druck gesetzt wurden, das ganze Leben lang dann nachziehen, dass man irgendwie wertlos ist, oder unfähig. Ich lese weiter: „Nur jemand, der zutiefst gedemütigt worden ist, der erniedrigenden Druck und extreme, entwürdigende Behandlung erfahren hat, ist in der Lage nachzuempfinden, wie tief die Brandmale sitzen, die die untersten Schichten des Bewusstseins mit Narben verunstalten.
Unsere Alpträume – die Angst vor Verhaftung, vor stampfenden Männerstiefeln, dem Brummen von Flugzeugen, der Schrecken vor lauten Stimmen, Schüssen, Hungergefühlen, erniedrigender Arbeit und Fron, vor extremer Kälte oder Hitze, vor erbärmlichen und entwürdigenden sanitären Verhältnissen, vor mangelhafter Bekleidung, dem Abgeschnittensein von der Familie – nahmen mit der Zeit allmählich ab. Sooft diese Ängste auftauchten, war Bibellesen die einzige Rettung und wirkte wie heilendes Salböl. Psalmenlesungen auf Tonband zu hören schenkten uns wieder Ruhe.“
Warum hat sie ihr Buch geschrieben?
Ich wurde dazu eingeladen, diese Sache nieder zu schreiben, damit die jüngere Generation weiß, wohin sie gehen kann, um Kraft zu finden. Und damit sie weiß, dass man vielleicht ganz klein sein mag, körperlich gesprochen, oder geistig gesprochen: jung, die gleiche Kraft steht jedem zur Verfügung. Ein jeder kann diese erhalten. Wir waren keine Supermenschen, wir waren einfach: „ein „kleines Mädchen“. Der Widerstand, der kam durch die geistige Erziehung. Da möchte ich mit den Schlussworten vielleicht dies noch mehr ans Licht bringen, da heißt es hier: „Jeder Überlebende des Naziterrors hat eine einzigartige Geschichte zu erzählen. Aus den Erlebnissen eines jeden lassen sich wertvolle Lektionen ableiten. In jedem dieser extremen Fälle wurden nicht nur die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit erprobt, sondern auch die Überlebensfähigkeit des Geistes belegt. Einen Sinn im Leben zu erkennen, für den zu kämpfen und den zu ertragen es sich lohnt, bedingen die Motivation, aus der Kraft geschöpft werden kann. Unsere Motive waren die bedingungslose Zuversicht in die Verheißungen Gottes und unser Wunsch, ihm treu zu bleiben.
Rikola-Gunnar Lüttgenau:
Ich habe jetzt die Freude überhaupt nichts mehr sagen zu müssen, außer dass der Dank natürlich dem Ehepaar gebührt, das sowohl die Kraft gefunden hat, hier zu diesem Ort zurückzukehren und dann noch zusätzlich die Kraft gefunden hat, auch ihre Erlebnisse und ihr Schicksal mit uns zuteilen. Wir werden uns jetzt in das ehemalige Häftlingslager des KZ Buchenwald begeben, zu dem ehemaligen von Herrn Wrobel schon genannten Block Nr. 45. Es ist ein Durchgang Block, in sofern man eben fast alle Häftlingsgruppen einmal in diese Block inhaftiert. Dieser Block befindet sich links von dem ehemaligen Kammergebäude. Das heißt, wenn Sie hier gleich durch das ehemalige Lagertor schreiten, befindet sich dieser Block unten rechts auf dem Lagergelände.
(Musik)
Nach den abschließenden Worten von Rikola-Gunnar Lüttgenau gehen wir wieder in das ehemalige Häftlingslager und verfolgen die Enthüllung des Gedenksteines durch Max Liebster.
Nun ist es Zeit sich wieder auf den Weg zu machen. [Motorengeräusch]
Wir fahren zurück über die „Blutstraße“ und hören im Geist wieder die arbeitenden Häftlinge:
(Straßenbaugeräusch).
Wo mag wohl der Holzstapel mit den Schwellen sein, hinter denen sich Max Liebster versteckte?
Wir halten noch kurz bei dem riesigen Mahnmal an und werfen einen letzten Blick
Weimar, hier wo Johann Wolfgang von Goethe 1832 gestorben ist. 105 Jahr nach seinem Tod wurde das KZ Buchenwald gebaut.
Wie hätte Goethe auf den Bau des KZ Buchenwald reagiert?
Gab es eigentlich Widerstand der Weimarer Bürger?
Was hätten wir getan?
Noch lange wird uns der Refrain des Buchenwaldliedes in Erinnerung bleiben:
(Musikakzent)
„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!“
© Ingeborg Lüdtke
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Für die Texte, Reden, Interviews und Buchzitate wurde für die Veröffentlichung die freundliche Genehmigung erteilt von Rikola-Gunnar Lüttgenau (Stellvertretender Direktor der KZ Gedenkstätte Buchenwald), Jehovas Zeugen in Deutschland, K. d. ö. R., Johannes S. Wrobel und der Arnold-Liebster-Stiftung.
Lieraturhinweis
Simone Arnold Liebster: Allein vor dem Löwen. Ein kleines Mädchen widersteht dem NS-Regime. Editions Schortgen, L-4004 Esch-sur-Alzette, 2002